Angelique Der Gefangene von Notre Dame
»barfuÃ, im BüÃerhemd, den Strick um den Hals...«
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Da hob Joffrey de Peyrac den Kopf. In seinem eingefallenen, wachsbleichen, entstellten Gesicht leuchteten nur die riesigen Augen mit dunklem Feuer.
Eine Frau stieà einen gellenden Schrei aus: »Er sieht mich an. Er wird mich behexen!«
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Aber der Graf de Peyrac schaute nicht in die Menge. Er blickte geradeaus und betrachtete die alten steinernen Heiligen an der grauen Fassade von Notre-Dame.
Welches Gebet richtete er an sie? Welches Versprechen empfing er? Sah er sie überhaupt?
Ein Gerichtsschreiber hatte sich links neben ihn gestellt und verlas mit näselnder Stimme das Urteil. Die Armsünderglocke war verstummt. Trotzdem hörte man nur einzelne Worte.
»... schuldig der Verbrechen der Entführung, Betörung, Gottlosigkeit... Magie... dem Scharfrichter übergeben... barhäuptig, barfuÃ... Abbitte leisten... brennende Kerze in der Hand ⦠kniend â¦Â«
Daran, dass der Schreiber das Pergament wieder aufrollte, erkannte man, dass die Verlesung beendet war.
AnschlieÃend verkündete Conan Bécher den Wortlaut des Reuebekenntnisses.
»Ich bekenne mich der Verbrechen, deren man mich anklagt, für schuldig. Ich bitte Gott um Verzeihung und akzeptiere meine Strafe als Sühne für meine Fehler.«
Der Kaplan hatte die Wachskerze genommen, die der Verurteilte nicht halten konnte.
Alle warteten darauf, dass sich die Stimme des Sünders erhob. Allmählich wurde die Menge ungeduldig.
»Wirst du wohl sprechen, du Satansjünger!«
»Du willst also bei deinem Herrn, dem Satan, in der Hölle braten?«
Plötzlich hatte Angélique den Eindruck, als sammelte ihr Gemahl seine letzten Kräfte. Leben kehrte in sein fahles Gesicht zurück. Er stützte sich auf die Schultern des Henkers und des Priesters und schien zu wachsen, bis er sogar Maître Aubin überragte. Eine Sekunde, bevor er den Mund öffnete, wusste Angélique, was er tun würde. Ihre Liebe zu ihm hatte es ihr verraten.
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Und unvermittelt war in der eisigen Luft eine tiefe, vibrierende, auÃergewöhnliche Stimme zu hören.
Ein letztes Mal erklang die Goldene Stimme des Königreichs.
Auf Okzitanisch sang sie ein Lied aus dem Béarn:
Les genols flexez am lo cap encli
A vos reclam la regina plazent
Flor de las flors, nou Jhésus prés nayssença
Vulhatz guarda la cientat de Tholoroza ...
Angélique war die Einzige, die die Worte verstand:
Mit gebeugtem Knie und gesenktem Haupt
Lege ich mein Schicksal in deine Hände,
liebreizende Königin.
Blume der Blumen, die Jesus gebar,
Schütze die Stadt Toulouse ...
SüÃeste Blume, von der wir Schutz erflehen,
SüÃeste Blume, wo alles gedeiht,
Lass blühen Toulouse für alle Zeit ...
Angélique durchfuhr ein Schmerz, als hätte sie ein Dolchstoà getroffen, und sie schrie auf.
Ihr Schrei hallte allein durch die abrupte, entsetzliche Stille. Denn die Stimme des Sängers war verstummt. Bécher hatte sein elfenbeinernes Kruzifix erhoben und dem Verurteilten damit auf den Mund geschlagen, woraufhin sein Kopf nach vorn fiel und ein roter Speichelfaden von seinen Lippen auf den Boden tropfte. Doch fast im gleichen Augenblick richtete Joffrey de Peyrac sich wieder auf.
»Conan Bécher«, rief er mit lauter, fester Stimme, »in zehn Tagen wirst du neben mir vor dem Richterstuhl Gottes stehen!«
Ein Schauer des Entsetzens schien durch die Menge zu laufen, und rasendes Gebrüll übertönte die Stimme des Grafen de Peyrac. Eine Woge des Zorns ergriff das Publikum, und in ihrer Wut waren die Menschen wie von Sinnen. Doch ihr Ausbruch richtete sich nicht gegen die Geste des Mönchs, sondern gegen den Hochmut des Verurteilten. Noch nie hatte es auf dem Vorplatz von Notre-Dame einen solchen Skandal gegeben! Zu singen...! Er hatte es tatsächlich gewagt, zu singen! Wenn es wenigstens ein Kirchenlied gewesen wäre! Aber der Verurteilte hatte in einer fremden, teuflischen Sprache gesungen... Und statt Reue zu zeigen, erteilte er seinen Peinigern auch noch Befehle.
Der Ansturm der Menge riss Angélique wie eine gewaltige Welle mit. Getragen, gequetscht, getreten, fand sie sich schlieÃlich in einem Portalwinkel wieder. Ihre Hand berührte eine Tür, die sie öffnete. Das Dunkel der verlassenen Kathedrale umfing die keuchende junge Frau.
Sie versuchte, sich zu beruhigen, den
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