Angelique Der Gefangene von Notre Dame
ausgesprochen ehrbar. Auch seine veränderte Miene trug zweifellos zu diesem Eindruck bei, denn Angélique zögerte plötzlich, ihn mit der gleichen Vertrautheit anzureden wie zuvor.
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»Ihr seht aus wie ein frommer Beamter«, sagte sie verwirrt.
»Und das ist doch genau der richtige Aufzug für einen Advokaten, der eine junge Dame zu ihrem Bruder bei den Jesuiten begleitet, findet Ihr nicht?«, fragte Desgrez und lüpfte ehrerbietig den Hut.
Kapitel 8
A ls sie sich den hohen, zinnenbewehrten Mauern des ehe maligen Templerbezirks näherten, wo, beherrscht vom finsteren Wehrturm der Tempelritter, eine Vielzahl gotischer Türme aufragten, ahnte Angélique nicht, dass sie bald den Ort in Paris betreten würde, an dem man die sicherste Gewähr hatte, unbehelligt zu leben und ruhig zu schlafen.
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Dieser von befestigten Mauern umschlossene Bereich, der einst das Lehen der Tempelritter gewesen war und nun vom Malteserorden verwaltet wurde, genoss alte Privilegien, denen sich selbst der König beugte: Man bezahlte dort keine Steuern, es gab keinerlei Behinderungen und Einschränkungen durch die Obrigkeit, und zahlungsunfähige Schuldner fanden dort Zuflucht vor der Verhaftung. Seit vielen Generationen bildete der Temple die Apanage der groÃen Bastarde Frankreichs. Der gegenwärtige GroÃprior, der Herzog von Vendôme, stammte in direkter Linie von Heinrich IV. und seiner berühmtesten Mätresse, Gabrielle dâEstrées, ab.
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Angélique, die nichts von der besonderen Gerichtsbarkeit dieser kleinen abgeschiedenen Insel inmitten der groÃen Stadt wusste, spürte eine gewisse Beklemmung, als sie über die Zugbrücke schritt. Doch auf der anderen Seite des Torgewölbes empfing sie eine überraschende Stille.
Der Temple hatte schon seit langem seine militärischen Traditionen verloren. Inzwischen war er bloà noch ein friedlicher Zufluchtsort, der seinen glücklichen Bewohnern alle Annehmlichkeiten
eines gleichermaÃen zurückgezogenen wie mondänen Lebens bot. Im Viertel der Adligen bemerkte Angélique einige Karossen, die vor den herrlichen Stadthäusern der Familien de Guise, de Boufflers und de Boisboudran standen.
Im Schatten der massigen Tour de César besaÃen die Jesuiten ein behagliches Haus, in dem vor allem jene Mitglieder ihrer Gemeinschaft lebten und sich ihren geistlichen Ãbungen widmeten, die bei den hohen Persönlichkeiten des Hofes das Amt eines Beichtvaters ausübten.
Im Vestibül des Hauses begegneten die junge Frau und der Advokat einem Priester mit spanischem Teint, der Angélique bekannt vorkam. Es war der Beichtvater der jungen Königin Maria Theresia, den diese zusammen mit ihren beiden Zwergen, der Kammerfrau Molina und der kleinen Philippa aus Spanien mitgebracht hatte.
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Desgrez bat den Seminaristen, der sie eingelassen hatte, dem ehrwürdigen Pater de Sancé auszurichten, dass ein Rechtsgelehrter sich mit ihm über den Grafen de Peyrac zu unterhalten wünsche.
»Wenn Euer Bruder nichts von seiner Verhaftung weiÃ, dann können die Jesuiten ihren Laden gleich dichtmachen«, erklärte der Advokat Angélique, während sie in einem kleinen Besucherzimmer warteten. »Ich habe oft gedacht, falls ich irgendwann einmal dazu berufen sein sollte, die Strafverfolgung neu zu organisieren, dann würde ich mich von ihren Methoden inspirieren lassen.«
In dem Moment kam Pater de Sancé raschen Schrittes herein. Auf den ersten Blick erkannte er Angélique.
»Meine liebe Schwester!«, sagte er.
Dann kam er auf sie zu und umarmte sie brüderlich.
»Oh, Raymond!«, entgegnete sie leise, durch diesen Empfang getröstet.
Er bedeutete ihnen, Platz zu nehmen.
»Wie steht es um deine schmerzliche Angelegenheit?«
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Nach den Aufregungen der vergangenen nicht einmal drei Tage und der energischen Behandlung durch Maître Georges konnte Angélique vor lauter Rührung darüber, ihren Bruder wiederzusehen, keinen klaren Gedanken mehr fassen, und so ergriff Desgrez an ihrer Stelle das Wort.
In ernstem Ton fasste er die Lage zusammen. Der Graf de Peyrac befand sich aufgrund einer geheimen Anklage wegen Hexerei in der Bastille. Dazu kam noch, dass er das Missfallen des Königs erregt und sich den Argwohn hochgestellter Persönlichkeiten zugezogen hatte.
»Ich weiÃ! Ich weiÃ!«, brummte der Jesuit vor sich hin.
Er verriet
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