Angelique Der Gefangene von Notre Dame
Herr, soâs Gescherr! Gestern Abend hat ein langer, schlaksiger Kerl mit fürchterlichem Akzent nach ihr gefragt, und sie ist mit ihm weggegangen.«
Angélique war bestürzt, denn sie fühlte sich für das junge Mädchen verantwortlich, das sie aus seiner Heimat fortgerissen hatte. Sie wandte sich an Barbe.
»Du hättest sie nicht gehen lassen dürfen, Barbe.«
»Woher sollte ich das denn wissen, Madame?«, jammerte das dicke Mädchen. »Die Kleine hatte den Teufel im Leib. Sie hat auf das Kreuz geschworen, dass der Mann, der nach ihr verlangte, ihr Bruder sei.«
»Ja sicher. Ihr Bruder auf gascognische Weise. Dort unten gibt es einen Ausdruck, âºBruder meiner Heimatâ¹, mit dem sich die Leute aus der gleichen Provinz bezeichnen. Ach, was sollâs. Jetzt brauche ich wenigstens nicht mehr für ihren Unterhalt zu zahlen â¦Â«
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Noch am gleichen Abend zogen Angélique und ihr kleiner Sohn in das bescheidene Zimmer bei der Witwe Cordeau am Carreau du Temple.
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So hieà der Marktplatz, auf dem sich die Händler in groÃer Zahl versammelten, um Geflügel, Fisch, frisches Fleisch, Knoblauch,
Honig und Kresse feilzubieten, denn gegen eine kleine Gebühr hatte jeder das Recht, sich dort niederzulassen und seine Waren zu dem Preis zu verkaufen, der ihm beliebte, ohne Steuern dafür zahlen zu müssen oder kontrolliert zu werden. Der Platz war sehr beliebt, und es herrschte stets ein reges Treiben. Die Witwe Cordeau hingegen war eine alte Frau von eher bäuerlichem als städtischem Wesen, die vor ihrem kärglichen Feuer Wolle spann und dabei fast wie eine Hexe aussah.
Aber Angéliques Zimmer war sauber und duftete nach Seife, das Bett war bequem, und jemand hatte ein dickes Bündel Stroh auf dem Boden verteilt, um die Kälte abzuhalten, die in diesen ersten Wintertagen von den steinernen Fliesen aufstieg.
Madame Cordeau hatte eine kleine Wiege für Florimond, etwas Holz und einen Topf mit Brühe heraufbringen lassen.
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Nachdem Desgrez und Gontran fort waren, fütterte die junge Frau den Kleinen und legte ihn schlafen. Florimond jammerte und rief nach Barbe und seinen kleinen Cousins. Um ihn abzulenken, sang sie ihm das Lied von der grünen Mühle vor, das er besonders gern mochte. Ihre Wunde schmerzte kaum noch, und sich um ihr Kind zu kümmern lenkte auch sie selbst ab. Zwar hatte sie sich in den vergangenen Jahren daran gewöhnt, von zahlreichen Bediensteten umgeben zu sein, aber ihre Kindheit war hart genug gewesen, dass ihr das Verschwinden ihrer letzten Magd nicht allzu viel ausmachte.
Im Ãbrigen hatten sie die Nonnen, bei denen sie zur Schule gegangen war, auch körperliche Arbeit gelehrt, »als Vorbereitung auf mögliche Schicksalsschläge, die der Himmel über sie hereinbrechen lassen könnte«.
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Und so durchströmte Angélique ein tiefes Wohlbehagen, als das Kind eingeschlafen war und sie selbst sich entspannt zwischen die groben, aber sauberen Laken legte, während der Nachtwächter
unter ihrem Fenster vorbeiging und rief: »Es ist zehn Uhr. Das Tor ist geschlossen. Schlaft in Frieden, ihr guten Leutâ im Temple...«
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Das Tor war geschlossen. Während die groÃe Stadt ringsum erwachte, um sich den Schrecken der Nacht mit ihren grollenden Schenken, ihren lauernden Räubern, ihren bereitstehenden Mördern und ihren Einbrechern zu stellen, schlief die kleine Gemeinschaft des Temple im Schutz ihrer zinnenbewehrten Mauern friedlich ein. Die Hersteller von falschem Schmuck, die zahlungsunfähigen Schuldner und die Herausgeber verbotener Schriften schlossen in dem Wissen um ein geruhsames Morgen die Augen. Vom Palast des GroÃpriors, der einsam inmitten seiner Gärten lag, schwebten Cembaloklänge herüber, und aus der Kapelle und dem Kreuzgang hörte man lateinische Gebete, während einige Malteserritter im schwarzen Mantel mit weiÃem Kreuz in ihre Zellen zurückkehrten.
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Es regnete. Angélique schlief friedlich ein.
Sie hatte sich im Templerbezirk unter dem unverfänglichen Namen Madame Martin angemeldet. Niemand stellte ihr eine Frage. In den folgenden Tagen lebte sie in dem ihr bislang unbekannten, aber angenehmen Gefühl, eine einfache junge Mutter aus bescheidenen Verhältnissen zu sein, die sich unauffällig zwischen ihren Nachbarn bewegte und keine anderen Sorgen kannte, als sich um ihr Kind zu kümmern. Bei
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