Angelique Der Gefangene von Notre Dame
schlanken Fingern und hielt sie fest.
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»Ihr seid sehr nett, Desgrez«, sagte sie leise und sah mit zärtlichem Blick zu ihm auf.
»Da irrt Ihr Euch gewaltig, Madame. Seht Ihr diesen Hund?«
Er deutete auf Sorbonne, der um sie herumtollte. Desgrez hielt ihn fest, packte seinen Kopf und entblöÃte das kräftige Gebiss der Dogge.
»Was haltet Ihr von diesen Zähnen?«
»Sie sind furchterregend.«
»Wisst Ihr, wozu ich diesen Hund abgerichtet habe? Nun, ich will es Euch sagen: Wenn es Abend wird in Paris, gehen wir beide auf die Jagd. Ich lasse ihn an einem alten Mantelfetzen Witterung aufnehmen oder an einem Gegenstand, der dem Verbrecher gehört, dem ich auf den Fersen bin. Und dann ziehen wir los; wir gehen an die Ufer der Seine hinab, wir streifen unter den Brücken und zwischen den Stützpfosten der Häuser herum, wir wandern durch die Vororte und über die alten Stadtmauern, wir gehen in die Höfe und tauchen ein in die Löcher, die bis obenhin voll sind mit diesem Ungeziefer aus Bettlern und Räubern. Und mit einem Mal stürmt Sorbonne los. Wenn ich ihn dann einhole, hält er meinen Mann an der Kehle gepackt. Ganz vorsichtig nur, gerade so, dass er sich nicht mehr rühren kann. Ich befehle meinem Hund âºwarteâ¹. Auf Deutsch, denn es war ein deutscher Söldner, der ihn mir verkauft hat. Dann beuge ich mich zu dem Mann hinab, ich verhöre ihn, und dann fälle ich das Urteil. Manchmal lasse ich Gnade walten, manchmal rufe ich die Stadtwache, damit sie ihn ins Châtelet bringen, und manchmal sage ich mir, wozu soll es gut sein, die Gefängnisse
und die ehrenwerten Richter zu bemühen? Dann sage ich zu Sorbonne: âºFass!â¹ Und schon gibt es einen Gauner weniger in Paris.«
»Und... und tut Ihr so etwas oft?«, fragte Angélique, die unwillkürlich erschauerte.
»Ziemlich oft, ja. Ihr seht also, ich bin kein netter Mensch.«
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»Es gibt so viele unterschiedliche Seiten an einem Mann«, murmelte sie nach kurzem Schweigen. »Er kann gleichzeitig sehr böse und doch nett sein. Warum geht Ihr diesem fürchterlichen Beruf nach?«
»Ich habe es Euch doch bereits gesagt: Ich bin arm. Mein Vater hat mir nichts als sein Advokatenamt und Schulden hinterlassen. Tag und Nacht trieb er sich in Spielhäusern herum. Ich selbst habe nie etwas anderes als Armut erlebt. Latein habe ich in einem jener Kollegien der Universität gelernt, wo einem im Winter vor Kälte die Haut abfriert. Damals habe ich Geschmack an Wirtshäusern und Bordellen gefunden, denn, glaubt mir, für einen armen Studenten gibt es nichts Wundervolleres, als sich die Hände zu wärmen, während sich am Spieà ein saftiger Braten dreht. Und meine Liebschaften waren etwas reifere Freudenmädchen, die meine FüÃe zwischen ihren dicken Schenkeln wärmten und keinen Sol von mir verlangten, weil ich jung und leidenschaftlich war. Mein Reich sind die Gassen von Paris und ihr nächtliches Treiben. Vielleicht werde ich irgendwann ein anerkannter Advokat, wenn ich einen groÃen Prozess gewinne. Aber so, wie die Dinge laufen, werde ich wohl in der zähen Haut eines schrecklichen Schnaufers enden, als Iltis der übelsten Sorte.«
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»Was ist das?«
»So nennen die Untertanen Seiner Majestät des GroÃen Coesre, des Königs der Bettler, die Büttel.«
»Sie kennen Euch bereits?«
»Sie kennen meinen Hund.«
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Vor ihnen lag die Rue du Temple. Sie war von schlammigen Löchern übersät, die mit Brettern abgedeckt worden waren. Noch wenige Jahre zuvor hatte es in diesem Viertel nur Gemüsegärten gegeben, die die »Gärten des Temple« genannt wurden, und zwischen den neuen Häusern sah man immer noch Kohlbeete und kleine Ziegenherden.
Vor ihnen tauchte die Wehrmauer mit dem düsteren Turm der alten Tempelritter auf.
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Desgrez bat Angélique, kurz zu warten, und betrat den Laden eines Kurzwarenhändlers. Bald darauf kam er mit einem schlichten sauberen Kragen ohne Spitzenbesatz wieder heraus, der mit einem violetten Bändchen gebunden wurde. WeiÃe Manschetten schmückten seine Handgelenke. Seine Westentasche wirkte seltsam gebauscht. Er zog ein Taschentuch heraus, wobei ihm um ein Haar ein groÃer Rosenkranz heruntergefallen wäre. Ohne dass er die Kleidung gewechselt hätte, wirkten sein Rock und seine fadenscheinigen Kniehosen mit einem Mal
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