Angelique Der Gefangene von Notre Dame
dass der Innenhof gar nicht so abgeschlossen war, wie es den Anschein hatte. Zur Rechten des Torbogens öffnete sich ein breiter Gang, der, soweit Angélique erkennen konnte, von verschiedensten Läden gesäumt war. Es waren die Besitzer dieser Läden, die die Lichter anzündeten, um nicht durch das unscheinbare Aussehen ihrer Waren womöglich die letzten Gelegenheiten des Tages zu verpassen. Der Anblick lenkte Angélique von ihren Sorgen ab. Neugierig geworden, näherte sie sich den Auslagen, auf denen die unterschiedlichsten Waren feilgeboten wurden: Fächer, Schildpatt, Halsketten und Zierrat aus reinem Gold. Das waren keine Imitationen oder unedle Metalle wie im Temple. An einem anderen Stand wurden Spitzen, Kragen, Manschetten und Jabots verkauft, und die Liebhaber wussten um die Qualität ihrer Herkunft. Sie entdeckte auch zahlreiche Bücher.
Sehr schnell erregte ein Laden ihre Aufmerksamkeit. Es war der erste in der Reihe. In der Auslage bemerkte sie auf einem Tablett aus schwarzem, wie Marmor glänzendem Holz jene Kuriosität, die dafür bekannt war, dass sie noch nie jemand zu Gesicht bekommen hatte. Doch ein Schild verkündete in deutlich lesbaren Buchstaben: Horn eines Einhorns .
Das Tablett war umringt von weiteren hübschen Gegenständen aus schönen Materialien, die bestens dazu geeignet waren, die Begeisterung der Neugierigen zu wecken: StrauÃeneier, Krokodilzähne und Körbe mit allen Arten von Kräutern und Pflanzen, die zu den interessantesten und merkwürdigsten der ganzen Welt gehörten.
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Da öffnete sich plötzlich die Tür im Hintergrund des Ladens, und eine Stimme sagte: »Hier braucht mich jemand...«
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Der Mann kam auf sie zu. Er war mittleren Alters, schwarz gekleidet und zweifellos der Besitzer. Als er sie ansah, wusste Angélique plötzlich nicht mehr, was sie sagen sollte.
Er musterte sie aufmerksam und sagte dann: »Ihr solltet Euch von dem Fluch befreien, der auf Euch lastet.«
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In dem Moment tauchte der schwer atmende Desgrez wieder auf. Er machte ihr keine Vorwürfe, weil sie trotz seiner Anweisung fortgegangen war, denn obwohl sie nichts davon bemerkt hatte, hatte der Hellebardenträger seinen Anweisungen gehorcht und war ihr die ganze Zeit über gefolgt. Auch jetzt stand er hinter ihr.
Der Advokat packte die junge Frau beim Arm, als gäbe er allmählich die Hoffnung auf, sie würde endlich dort bleiben, wo sie hingehörte, und begrüÃte den Besitzer des seltsamen Ladens.
»Wie geht es Euch, Maître Ludovicus? Das Buch, das Ihr mir geliehen habt, kann ich Euch leider noch nicht zurückbringen.«
»Das macht nichts! Behaltet es so lange wie nötig. Ich weiÃ, dass es Euch... von Nutzen sein wird.«
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Desgrez erwartete eine Erklärung von Angélique, doch es kam keine.
Als sie sich entfernten, rief Maître Ludovicus dem Advokaten nach: »Versucht, sie zu überzeugen... Sie hat es verdient zu leben.«
DrauÃen fiel der Schnee in dicken Flocken.
»Wer ist dieser Mann? Womit handelt er?«, wollte Angélique wissen, nachdem sie unter einem Torvorbau stehen geblieben waren, um dem Gedränge vor den Auslagen zu entkommen.
»Das ist der Magier des Viertels«, antwortete der Advokat. »Er befreit Euch von Dämonen der niederen Kategorien.«
Angélique unterdrückte einen erschreckten Aufschrei.
»Habt Ihr mir nicht gesagt, dafür gäbe es Priester?«
»Priester sind für den groÃen Widersacher zuständig: den Satan. Aber für die bösen Geister, die die Menschen plagen, bedarf es anderer Spezialisten... Warum zittert Ihr denn so?«
»Weil Ihr mir fürchterliche, schreckliche Dinge erzählt. Ihr glaubt doch nicht etwa an so etwas, Desgrez?«
»Oh, ich glaube an gar nichts, das wisst Ihr doch. Aber ich gebe zu, dass die Methoden von Maître Ludovicus wirkungsvoll sind. Er ist einer jener Wahrsager, die alle Gesellschaften brauchen, weil sie von alters her mit der unsichtbaren, aber nicht minder regen Welt um uns herum in Verbindung treten mussten. Erkundigt Euch nur nach dem Magier aus der Galerie des Justizpalasts. Dann werdet Ihr ja sehen, welch hohes Ansehen er genieÃt. Ich wäre nicht überrascht, wenn einige der ach so frommen Richter ihn ebenfalls heimlich aufsuchten. Angeblich soll sogar der Siegelbewahrer Séguier zu seinen
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