Angelique Der Gefangene von Notre Dame
jemand fort. Zwar war dieser Abschied genauso wenig ein Zufall wie die anderen, aber trotzdem hatte Angélique das Gefühl, erneut im Stich gelassen zu werden.
Sie war zwei Stunden fort gewesen und hatte ein paar kleinere Besorgungen zum Vorwand genommen, um ihren natürlichen Drang nach Luft und Freiheit zu stillen, der ihr so guttat. Doch als sie in den Temple zurückkehrte, erfuhr sie von Madame Cordeau, dass Madame Scarron ausgezogen war.
Einige Herren seien gekommen, um sie abzuholen: der Marquis dâAlbret, Monsieur de Méré und der Graf de Lude. Als Angélique diese Namen hörte, die sich Madame Cordeau als gewissenhafte Hüterin des Hauses gemerkt hatte, erkannte sie, dass die Königinmutter die Bitten der Freunde der Witwe des Dichters Scarron erhört haben musste.
Angélique wünschte Françoise, dass die ihr gewährte Pension ausreichen würde, um ihre Schulden zu bezahlen und eine angemessenere Unterkunft zu finden, wo sie weiterhin ihre Freunde empfangen konnte. Sie hatte ihre wenigen Möbel mitgenommen. Für Angélique hatte sie eine kurze Nachricht zurückgelassen, in der sie bedauerte, den Temple zu verlassen, ohne sie zum Abschied noch einmal umarmen zu können. Sie würde Nanon schicken, um sich nach ihr zu erkundigen.
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Vergeblich lieà die vergangene Weihnacht noch ein wenig von ihrer Sanftheit durch die Kälte und Dunkelheit des Winters wehen. Das Ende des Jahres rückte näher, und weitere Feste standen bevor. Doch für Angélique wurden die Festlichkeiten von der Ankündigung des Prozesses überschattet. Bald würde
es so weit sein, denn der Angeklagte war bereits in die Conciergerie verlegt worden, wo sich die Zellen des Justizpalastes befanden.
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Der Advokat Desgrez wohnte auf dem Petit-Pont, der die Ãle de la Cité mit dem Universitätsviertel verband, in einem der alten schmalen, spitzgiebeligen Häuser, deren Fundamente seit Jahrhunderten schon von der Seine umspült wurden und die trotz der zahlreichen Ãberschwemmungen einfach nicht einstürzten.
Als Angélique es vor Ungeduld nicht mehr aushielt, suchte sie ihn zu Hause auf, obwohl er ihr geraten hatte, das Gelände des Temple nicht zu verlassen. Der Wirt der »Drei Hämmer« hatte ihr seine Adresse verraten. Seit Raymonds Abreise hatte sie den jungen Mann nicht mehr gesehen und auch nichts von ihm gehört. Die Jesuiten, mit denen der Advokat gesprochen hatte, hatten sie freundlich empfangen, aber auch sie wussten nichts oder wollten nichts sagen. Pater Kiher war unauffindbar, und man gab ihr zu verstehen, dass der GroÃexorzist nicht unentwegt gestört werden durfte. So hatte sie schlieÃlich eine Maske aufgesetzt und sich quer durch Paris auf die Suche nach dem Advokaten gemacht. Ihr war bewusst, wie unvorsichtig das war, aber ihre Geduld war erschöpft.
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Als sie die Adresse erreichte, die man ihr genannt hatte, zögerte sie. Tatsächlich, dieses Haus passte zu Desgrez: ärmlich, schlaksig und ein klein wenig arrogant. Der Schatten der Gefängnismauern vom Petit Châtelet breitete sich über seine heruntergekommene Fassade. Im Erdgeschoss schützte eine von alten Skulpturen umringte Statue des heiligen Nikolaus den Laden eines Wachsziehers. Die Leute, die zum Beten in die nahe Kathedrale Notre-Dame gingen, kauften bei ihm ihre geweihten Kerzen.
Der Wachszieher gab ihr Auskunft: Ja, dieser unselige Advokat
wohnte im obersten Stock. Das sei auch gerade gut genug für so einen zwielichtigen Halunken, der sich dank seines blutrünstigen Hundes erdreistete, keine Miete zu zahlen! Für einen Säufer, der in alles seine Nase hineinstecken musste und die anständigen Leute nicht in Frieden lieÃ! Eines Tages würde man ihn ertrunken aus der Seine ziehen, und beim heiligen Nikolaus, alle Welt würde sich wünschen, ihn einfach wieder hineinzuwerfen.
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Angélique stieg die Wendeltreppe hinauf, deren morsches Holzgeländer mit seltsamen geschnitzten Fratzen verziert war. Im obersten Stockwerk gab es nur eine Tür. Sie hörte Sorbonne an der Schwelle schnüffeln und klopfte.
Ein dralles Mädchen mit geschminktem Gesicht, dessen verrutschtes Halstuch den Blick auf einen ausladenden Busen freigab, öffnete.
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Angélique wich zurück. Daran hatte sie nicht gedacht.
»Was willst du?«, fragte das Mädchen.
»Wohnt hier Maître Desgrez?«
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Im Zimmer
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