Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
schon so viel Gutes gehört hatte. Das goldgrüne Gebräu schmeckte köstlich, stark und samtig zugleich, und nachdem sie getrunken hatte, breitete sich eine angenehme Wärme in ihrem Körper aus.
»Bravo!«, grölte Bruder Thomas. »Du verstehst es wenigstens, einen zu heben!«
Er zog sie auf seinen Schoß. Sein nach Wein riechender Atem und der Wollfettgestank, der aus seiner groben Kutte aufstieg, widerten Angélique an, aber der Alkohol machte sie benommen. Die Hand von Bruder Thomas tätschelte in einer vermeintlich väterlichen Geste ihr Knie.
»Die ist ja mächtig süß, die Kleine.«
»Mein Bruder, lasst dieses Kind in Frieden«, erklang plötzlich eine Stimme von der Tür her.
Auf der Schwelle stand wie eine Erscheinung ein weiß gekleideter Mönch mit seiner Kapuze auf dem Kopf, die Hände in seine weiten Ärmel geschoben.
»Ah! Da kommt unser Spielverderber«, knurrte Bruder Thomas missmutig. »Ihr braucht Euch uns ja nicht anzuschließen, wenn gutes Essen Euch nicht lockt, Bruder Jean. Aber lasst wenigstens die anderen sich in Ruhe daran erfreuen. Noch seid Ihr nicht unser Pater Abt.«
»Darum geht es nicht«, antwortete der andere Mann mit gepresster Stimme. »Ich empfehle Euch lediglich, dieses Kind in Frieden zu lassen. Sie ist die Tochter des Barons de Sancé, und es wäre nicht gut, wenn sie sich bei ihm über Euren Lebenswandel beklagen müsste, statt Eure Gastfreundschaft zu preisen.«
Darauf folgte ein überraschtes, verlegenes Schweigen. Bruder Thomas’ Hände sanken herab.
»Kommt, mein Kind«, sagte der Mönch mit fester Stimme.
Angélique folgte ihm. Sie überquerten den Hof.
Als sie den Blick hob, sah sie über dem Kloster den unbeschreiblich klaren Sternenhimmel. Hinter ihrem Führer her gelangte sie in einen weitläufigen Kreuzgang. In der den Bögen gegenüberliegenden Wand öffnete sich eine Reihe von Türen.
»Kommt herein«, forderte Bruder Jean sie auf, während er eine der hölzernen, mit einer kleinen Klappe versehenen Türen öffnete. »Das ist meine Zelle. Hier könnt Ihr bis morgen unbehelligt ausruhen.«
Es war ein sehr kleiner Raum mit kahlen Wänden, die als einzigen Schmuck ein Kruzifix und ein Bild der Jungfrau Maria aufwiesen. In einer Ecke gab es eine niedrige Schlafstatt, kaum mehr als ein Brett mit groben Laken und einer Decke. Unter dem Kruzifix stand ein hölzerner Betstuhl, auf dessen Ablage mehrere Gebetbücher lagen. Es herrschte eine angenehme Kühle im Raum, die sich jedoch im Winter in eine entsetzliche Kälte verwandeln musste. Das Rundbogenfenster wurde mit einem einzigen Fensterladen geschlossen, der an diesem Abend offen stand. Von draußen wehten die Gerüche des nächtlichen Waldes, der Duft von Moos und Pilzen herein. Auf der linken Seite führte eine Stufe zu einer kleinen Kammer, in der ein Nachtlicht brannte. Ein mit Pergamenten und Töpfchen bedecktes Pult füllte sie beinahe ganz aus.
Der Mönch deutete auf sein Schlaflager.
»Legt Euch dort hin und schlaft ohne Furcht, mein Kind. Ich werde mich weiter meiner Arbeit widmen.«
Er ging hinüber in die Kammer, setzte sich auf einen Hocker und beugte sich über die Pergamente.
Angélique saß auf der Kante der harten Matratze und verspürte nicht die geringste Lust zu schlafen. Sie hatte nicht geahnt, dass es so merkwürdige Orte gab. Sie stand auf und ging ans Fenster, um hinauszuschauen. Unter sich sah sie undeutlich ein paar Reihen kleiner, sehr schmaler Gärten,
die durch hohe Mauern voneinander getrennt waren. Jeder Mönch hatte seinen eigenen Garten, in den er jeden Tag ging, um ein wenig Gemüse anzubauen und sein Grab auszuheben.
Auf Zehenspitzen schlich sie zu der kleinen Kammer, in der Bruder Jean arbeitete. Das Nachtlicht beleuchtete sein halb unter der Kapuze verborgenes noch junges Profil. Sorgfältig kopierte er eine alte Miniatur. Seine mit Rot, Goldpuder oder Blau getränkten Pinsel, die er aus den Farbtöpfen zog, bildeten geschickt das Flechtwerk aus Blumen und Ungeheuern nach, mit dem die alten Künstler gerne die Gebetbücher geschmückt hatten.
»Schlaft Ihr nicht?«
»Nein.«
»Wie ist Euer Name?«
»Angélique.«
Plötzliche Erschütterung zeigte sich auf dem von Entbehrungen und Askese gezeichneten Gesicht.
»Angélique! Tochter der Engel. Das ist es«, murmelte er.
»Ich bin froh, dass Ihr gekommen seid, Pater. Dieser dicke Mönch war mir unangenehm.«
»Mit einem Mal«, sagte Bruder Jean mit eigenartig leuchtenden Augen, »sprach eine Stimme in mir:
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