Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
›Steh auf, lass ab von deiner friedlichen Arbeit. Wache über meine verlorenen Schafe...‹ Von ich weiß nicht welchem Impuls getrieben, habe ich meine Zelle verlassen. Mein Kind, warum seid Ihr nicht brav unter dem Dach Eurer Eltern, wie es sich für ein Mädchen von Eurem Alter und Stand geziemt?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Angélique leise und senkte verwirrt den Kopf.
Der Mönch hatte seine Pinsel zur Seite gelegt. Er stand auf und trat, die Hände in seine weiten Ärmel geschoben, ans Fenster, wo er lange zum Sternenhimmel aufblickte.
»Seht«, sagte er mit gesenkter Stimme, »die Nacht liegt noch über der Erde.
Die Bauern schlafen in ihren Hütten und die Herren in ihren Schlössern. Im Schlaf vergessen sie ihre menschlichen Sorgen. Aber die Abtei schläft nie. Hier sind der Geist Gottes und der Geist des Bösen in endlosem Kampf verstrickt...
Ich habe die Welt sehr früh verlassen und mich hinter diese Mauern zurückgezogen, um Gott im Gebet und im Fasten zu dienen. Doch neben größter Gelehrsamkeit und erhabenster Mystik habe ich hier die schändlichsten, verderbtesten Sitten vorgefunden. Fahnenflüchtige oder kriegsversehrte Soldaten erhoffen sich im Kloster unter grobem mönchischem Tuch ein träges, gesichertes Dasein; und mit sich bringen sie ihre lasterhaften Gewohnheiten.
Die Abtei ist wie ein großes, vom Sturm geschütteltes Schiff, das überall knarzt. Aber sie wird nicht untergehen, solange es in ihren Mauern noch betende Seelen gibt. Einige wenige von uns sind fest entschlossen, hier um jeden Preis das büßende, nach Heiligkeit strebende Leben zu führen, zu dem wir bestimmt waren. Ach! Aber das ist nicht leicht. Was lässt sich der Satan nicht alles einfallen, um uns von unserem Weg abzubringen... Wer nie hinter Klostermauern gelebt hat, hat dem Satan niemals ins Gesicht geblickt.
Er möchte so gerne Herr sein im Haus Gottes! Und als sei er der Ansicht, die Versuchungen der Verzweiflung genügten nicht oder jene, die er uns durch die Frauen schickt, die innerhalb unserer Mauern geduldet werden, kommt er selbst des Nachts, klopft an unsere Türen, weckt uns auf und prügelt auf uns ein …«
Er zog seinen Ärmel hoch und zeigte ihr einen mit blauen Flecken übersäten Arm.
»Seht«, klagte er, »seht nur, was Satan mir angetan hat.«
Angélique lauschte ihm mit wachsender Angst.
Er ist verrückt, dachte sie bei sich.
Aber mehr noch fürchtete sie, dass er nicht verrückt sein könnte. Sie spürte die Wahrheit in seinen Worten, und vor Angst standen ihr die Haare zu Berge. Wann war diese drückende, trostlose Nacht endlich vorüber...?
Der Mönch war auf dem harten, kalten Boden auf die Knie gesunken.
»Herr«, flehte er, »hilf mir. Hab Erbarmen mit meiner Schwäche. Vertreibe den Satan von diesem Ort!«
Angélique war auf die Bettkante zurückgekehrt. Sie spürte, wie ihr Mund trocken wurde von einem unbestimmten Schrecken. Die Worte »unheilvolle Nacht« kamen ihr in den Sinn, mit denen die Amme gerne ihre Geschichten schmückte. In ihrer Nähe gab es etwas Unerträgliches, das sie nicht näher beschreiben konnte und das ihr den Atem raubte, bis sie beinahe in Panik geriet.
Endlich klang der leise Schlag einer Glocke durch die Dunkelheit und durchbrach die tiefe Stille des Klosters.
Bruder Jean richtete sich auf. Angélique sah glitzernde Schweißspuren auf seinen Schläfen, als läge ein anstrengender körperlicher Kampf hinter ihm.
»Jetzt ist Zeit für die Matutin«, sagte er. »Es ist noch dunkel, aber ich muss mit meinen Brüdern in die Kapelle. Ihr könnt hierbleiben, wenn Ihr wollt. Ich komme Euch holen, wenn die Sonne aufgegangen ist.«
»Nein, ich habe Angst«, protestierte Angélique, die sich am liebsten an die grobwollene Kutte ihres Beschützers geklammert hätte. »Kann ich nicht mit Euch in die Kirche kommen? Ich will auch beten.«
»Wenn Ihr mögt, mein Kind. Früher wäre es niemandem eingefallen, ein kleines Mädchen zur Matutin mitzunehmen«, fügte er mit einem traurigen Lächeln hinzu, »aber inzwischen
begegnen wir in unseren Mauern so vielen Menschen, die hier nichts zu suchen haben, dass nichts mehr verwundert. Darum habe ich Euch auch in meine Zelle gebracht, wo Ihr sicherer wart als in einer Scheune.«
Ernst fuhr er fort: »Ich möchte Euch bitten, außerhalb des Klosters niemandem zu erzählen, was Ihr hier gesehen habt, Angélique.«
»Ich verspreche es Euch«, sagte sie und sah mit ihrem klaren Blick zu ihm auf.
Sie gingen
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