Angélique - Hochzeit wider Willen
und sie hätte nicht behaupten können, bereits jeden Winkel und jeden verschlungenen Weg erkundet zu haben. Aber da war diese Treppe, die sie im Vorübergehen lockte. Am oberen Ende dieser Folge flacher Stufen war ein Absatz zu erkennen, und sie konnte erahnen, dass auf ihn eine weitere Treppe folgte. Was würde sie entdecken, wenn sie nach oben ging? Das Licht fiel von dort aus herein; also war der obere Teil des Hauses wohl kein abgeschlossener, düsterer Bereich.
Aber die obere Etage machte ihr auch einen unbewohnten Eindruck; und die Treppe forderte sie auf, sie zu erforschen.
Heute hatte sie beschlossen, dass die Zeit gekommen war, sich ins Abenteuer zu stürzen. Sie würde die Mittagsstunden nutzen, um die zweite Etage zu erkunden; denn sie sagte sich,
dass ihr bisher niemand außer ihr selbst den Zutritt verwehrt hatte.
Seit zwei Tagen war im Palast der fröhlichen Wissenschaft ein Gelehrter zu Gast, zu dessen Gunsten Joffrey de Peyrac es vorgezogen hatte, die Zahl seiner Gäste zu beschränken, denn dieser noch junge Mann wirkte sehr erschöpft.
Bei den Mahlzeiten ermunterte Angélique ihn, gut zu essen, denn er kam ihr mager vor wie ein Mensch, der sich ganz dem Studium der Wissenschaften widmet, sich in weitschweifigen Diskussionen aufreibt und keine behagliche Wohnung sein Eigen nennt, in der er sich zwischen zwei stürmischen Akademiesitzungen ausruhen kann. Er drückte sich sehr gewandt aus, erzählte seine kleinen Anekdoten gut und brachte sie mit humorvollen Schilderungen der Misslichkeiten seiner Existenz zum Lachen. Obwohl die Fragen, die er aufwarf, bedeutsam waren und aufrichtige und überzeugte Freunde sich für ihn einsetzten, hatten seine Aufenthalte in Rom, Padua und Lyon jedes Mal damit geendet, dass er sich vor den Stadttoren wiederfand; zusammen mit seinem gesamten, aus einem Kaplan, einem Koch, zwei Lakaien für die Pferde und dem Maultier, das Gepäck und Truhen voller Bücher trug, bestehenden Haushalt.
Sein Name war Fabricius Contarini.
Erstaunt erfuhr Angélique, dass er Venezianer war, denn er sprach das Französische ohne Akzent. Aber er hatte seine Heimatstadt auch bereits in jungen Jahren verlassen.
»Nun fragt Ihr Euch sicher, Madame, ob ich schon damals eine Missetat begangen habe, die mich für lange Zeit zu einer unerwünschten Person gemacht hat. Nein, da könnt Ihr beruhigt sein.«
Nachdem er Venedig verlassen hatte, war er zum Studium nach Montpellier gegangen, der altehrwürdigen französischen Universitätsstadt;
ein glücklicher Umstand, denn dadurch war er unter seinen Kommilitonen Joffrey de Peyrac begegnet. In der Folge hatten die Wechselfälle des Lebens die beiden getrennt, doch sie hatten versucht, einander wiederzusehen. Fabricius war nicht zum ersten Mal Gast im Palast der fröhlichen Wissenschaft.
Auf Zehenspitzen setzte Angélique einen Fuß nach dem anderen auf die Treppenstufen. Ihre unbestimmte Unruhe verflog.
Schließlich ist das auch mein Palast!
Mühelos ging sie hinauf. Ähnliches hatte sie schon beim Betrachten mancher religiöser Gemälde gespürt, die einen zu einem azurblauen Firmament, wo Engel warten, hochzuziehen scheinen.
Oben angekommen, entdeckte sie eine lange, offene Galerie, die an der ganzen Fassade entlang verlief und auf den Park hinausführte. Hinter dem wellenförmigen Grün konnte man in der Ferne ein Stück Landschaft erkennen, das verschwommen unter dem für diese Gegend so eigentümlichen blau-rosigen Dunst lag. Genau wie in der unteren Etage führten auf der gesamten Länge Türen in Salons oder Zimmer.
Angélique hörte Stimmen.
Sie blieb stehen und spitzte die Ohren.
Die Stimmen kamen aus einem Raum auf halber Höhe der Galerie, dessen Tür offen stand. Es schienen nicht viele Personen zu sein.
Nachdem Angélique zunächst gezögert hatte, schlich sie leise an der Wand entlang darauf zu. Um sie herum herrschte tiefe Stille. Jemand deklamierte etwas und wurde ab und an von einer anderen Stimme unterbrochen. Jetzt war sie sich sicher, dass es sich nur um zwei Personen handelte.
Die Stimme war schön.
»Verehrter gelehrter Freund,
bisher habe ich nur das Vorwort deines Buches gelesen, was mir zumindest gestattet hat, einen Teil dessen zu erkennen, auf das du abzielst. Nichts, wirklich nichts ist mir angenehmer, als auf der Suche nach der Wahrheit einen Verbündeten zu finden, der so sehr wie du ein Freund der Tatsachen ist. In der Tat, es ist ein Jammer, dass es so wenige Menschen gibt, die der
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