Angélique - In den Gassen von Paris
gedemütigte, mittellose Person, verlassen und vergessen, nach Versailles vordringen. Nein, wenn, dann nur nachdem sie alles zurückgewonnen hätte, und als Gast des Königs. Das wäre das erste Zeichen: Sie würde sich im Angesicht des Königs unter ihren Standesgenossen wiederfinden. Dann würde sie die Gewissheit haben, dass sie aus dem Abgrund aufgestiegen war, dass sie ihre Rache für die ungerechte Verfolgung bekommen und ihren Söhnen erneut einen Rang gegeben hatte.
Das Herz klopfte Angélique von ihrem plötzlich wiedergefundenen aufrührerischen Geist, und sie setzte sich auf halbem Weg auf eine der Steinstufen.
Von dieser Stelle am Hang des Weinbergs konnte man die Dächer der Herberge noch erkennen, aber die Geräusche von unten drangen nur noch als fernes Murmeln zu ihr. Manchmal, wenn ein leichter Wind sie verwehte, wurde es ganz still um sie.
Nach und nach beruhigte sie sich, und selbst der Name Versailles löste sich auf und verschwand aus ihren Gedanken.
Die liebliche Landschaft, die sich vor ihren Augen ausbreitete, strahlte Frieden und innere Zufriedenheit aus.
In der Ferne lag wie eine gewaltige Blume, die aus einem sonnenbeschienenen Dunst aufsteigt, Paris in diversen Blau-und Violetttönen. Wenn das Auge sich darauf eingestellt hatte, konnte man das unstete Muster seiner Wohnviertel und die geschwungenen Linien seiner Stadtmauern erkennen, die hier und da mit Türmen und Kirchen durchsetzt waren. An einigen Stellen war so etwas wie plötzlich aufbrodelnde Blasen zu sehen, schimmernde, aufgeblähte Sphären, die bebten und kurz davor schienen, sich in die Lüfte zu erheben.
Fasziniert versuchte sie, diese neuen Formen zu zählen, und spähte angestrengt in die Ferne.
Jemand setzte sich neben sie auf die Steinstufe.
»Ihr schaut die Kuppeln an«, sagte eine Stimme. »Die Kuppeln von Paris …«
Das war Meister Anselme, der Winzer.
Lange blieb er so versunken sitzen, und beide betrachteten einträchtig die ferne Landschaft.
»Ich war noch jung«, ließ er sich erneut vernehmen, »als dort unten die Ersten auftauchten. ›Wozu bauen sie bloß diese Kuppeln?‹, pflegte mein Vater zu sagen. ›Damit Paris am Ende wie Rom aussieht?‹ Er hatte nämlich Italien bereist. Die älteste ist die Kuppel des Mutterhauses der Jesuiten in Faubourg Saint-Antoine. Sie ist der Kirche, die sie in Rom unterhalten, nachempfunden… Ebenfalls in Faubourg Saint-Antoine gibt es die Kuppel der Kapelle der Visitandiner, die noch ziemlich neu ist … Früheren Datums ist die Kuppel des Benediktinerklosters Val-de-Grâce in Faubourg Saint-Jacques, der Abtei, die von unserer Königinmutter begründet wurde, und die der Kirche der Sorbonne im Quartier Latin. Diese erkennt man immer, denn sie ist die gewaltigste. Zweifellos, weil sie das Grab von Kardinal Richelieu beherbergt. Der Kardinal hat sie schon zu seinen Lebzeiten errichten lassen.
Schwieriger zu entdecken ist die älteste von allen, eine sehr kleine Kuppel über der Kapelle in den Gärten der Königin Marguerite von Frankreich. Sie liegt ebenfalls auf dem linken Flussufer, in der Nähe der Pré du Clercs und nicht weit vom Louvre entfernt.«
»Welche Marguerite von Frankreich meint Ihr?«, fragte Angélique. »Da gibt es mehrere, Eure Tochter noch gar nicht eingerechnet.«
Er lächelte beifällig.
»Diejenige, die man auch Königin Margot nennt«, erklärte er dann. »Diese Kuppel kann man bei regnerischem Wetter sehen. Man erkennt sie, weil sie ein Oberlicht besitzt.«
Als Meister Anselme sich vorbeugte, um ihr einen bestimmten Punkt zu zeigen, sah sie seinen muskulösen Arm, der aus seinem hochgerollten Hemdärmel hervorschaute. Von der Sonne golden gefärbt, schien er den Schimmer der Jugend bewahrt zu haben.
Sie warf ihm einen forschenden Seitenblick zu. Sein Schnurrbart wurde grau, aber das war kein Schnurrbart »à la gauloise«. Er war zwar sehr dicht, ließ aber seine Lippen frei. Diese Art von Bart nannte man »Weinverkoster-Schnurrbart«.
Sie kannte ihn, weil sie ihn im Gastraum der Herberge gesehen hatte. Wenn er sich dort aufhielt, spielte er seine Rolle recht gut, verteilte schwere Zinnkrüge und war ständig von den verschiedensten Menschen umgeben, die ihn zu Reden anstachelten; denn er erteilte gern Auskünfte über die Gegend, die durch die Nähe zu Versailles und die dortigen Bauarbeiten neue Anziehungskraft gewonnen hatte. Aber trotzdem hatte Angélique den Eindruck gehabt, er sei von Natur aus schweigsam und von
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