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Angélique - In den Gassen von Paris

Angélique - In den Gassen von Paris

Titel: Angélique - In den Gassen von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Golon
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tränennass war.
    »Auch ich schlafe gern im Heu«, hob er erneut an. »Als ich mich auf den Kahn schlich, habe ich dich entdeckt. Du hast im Schlaf geweint. Da habe ich dich gestreichelt, um dich zu trösten, und du hast ›mehr‹ gesagt.«

    »Ich?«
    »Ja. Ich habe dir das Gesicht getrocknet und gesehen, dass du sehr schön bist. Deine Nase ist so fein wie diese Muscheln, die man am Strand findet; du weißt schon, diese weißen, zarten Muscheln, die beinahe durchsichtig sind. Deine Lippen sind wie Clematisblüten. Dein Hals ist weich und glatt …«
    Angélique lauschte ihm wie in einem Wachtraum. Wahrhaftig, es war lange her, dass jemand so zu ihr gesprochen hatte. Die Worte schienen aus weiter Ferne zu kommen, und sie hatte Angst, er mache sich vielleicht lustig über sie. Wie konnte er behaupten, sie sei schön, da sie sich doch beschmutzt fühlte? Für alle Zeiten besudelt durch diese schreckliche Nacht, in der sie begriffen hatte, dass sie den Menschen, die Zeugen ihrer Vergangenheit gewesen waren, nicht mehr ins Gesicht sehen konnte …
     
    Doch er sprach weiter im Flüsterton auf sie ein.
    »Deine Schultern sind wie zwei Kuppeln aus Elfenbein. Deine Brüste sind so schön, dass man sie mit nichts als ihnen selbst vergleichen kann. Sie sind genau dazu geschaffen, in die hohle Hand eines Mannes zu passen, und sie haben eine kleine, köstliche, rosenholzfarbene Knospe, wie man sie überall in der Natur sieht, wenn der Frühling kommt. Deine Schenkel sind schlank und seidenweich. Dein Leib ist wie ein Kissen aus weißer Seide, rundlich und straff, auf dem man gern seinen Kopf ausruht.«
    »Ich möchte wissen«, warf Angélique empört ein, »wie es kommt, dass Ihr Euch ein Urteil über das alles erlaubt!«
    »Während du geschlafen hast, habe ich dich genau angesehen.«
    Abrupt setzte Angélique sich im Heu auf.
    »Unverschämter Kerl! Lüsterner Student! Erzjünger des Teufels!«

    »Psst! Nicht so laut. Willst du etwa, dass die Schiffer uns über Bord werfen…? Warum seid Ihr böse, edle Dame? Wenn man ein Juwel am Wegesrand findet, ist es dann nicht recht, es genau zu betrachten? Man möchte doch wissen, ob es wirklich aus edlem Gold besteht, ob es tatsächlich so schön ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Kurz gesagt, man muss feststellen, ob es einem gefällt oder man es lieber dort lässt, wo es ist. Rem passionis suae bene eligere princeps debet, mundum examinandum. « 3
    »Ach, und Ihr seid der Fürst, auf dem die Blicke der Welt ruhen?«, verlangte Angélique sarkastisch zu wissen.
    Verblüfft zog er die Augen zusammen.
    »Du verstehst Latein, kleine Gaunerin?«
    »Für einen Gauner sprecht Ihr es gut …«
    Verwirrt biss sich der Student auf die Unterlippe.
    »Wer bist du?«, fragte er leise. »Deine Füße sind blutig. Du musst lange gewandert sein. Was hat dir solche Angst eingejagt?«
    Da sie nicht antwortete, fuhr er fort:
    »Du hast da ein Messer … Eine schreckliche Waffe, einen Ägypterdolch. Kannst du damit umgehen?«
    Aus halb geschlossenen Augen warf Angélique ihm einen listigen Blick zu.
    »Vielleicht.«
    Er zog einen Halm aus dem Heu und begann darauf herumzukauen. Seine hellen Augen wirkten nachdenklich. Bald hatte sie den Eindruck, dass er gar nicht mehr an sie dachte. Aber worüber sann er nach? Vielleicht über die Türme von Notre-Dame, wo man ihn, wie er gesagt hatte, einsperren würde … Als er jetzt so reglos und abwesend dasaß, wirkte
sein bleiches Gesicht weniger jung. In seinen Augenwinkeln entdeckte sie schlaffes Gewebe, mit dem das Elend oder die Ausschweifung einen Mann schon in der Blüte seiner Jahre zeichnen können.
    Abgesehen davon wirkte er alterslos. Sein magerer Körper in den zu weiten Kleidern schien keine Substanz zu besitzen. Sie fürchtete beinahe, er könne sich auflösen wie eine Vision.
    »Wer seid Ihr?«, flüsterte sie und berührte seinen Arm.
    Er wandte ihr seine Augen zu, die nicht für das Licht geschaffen zu sein schienen.
    »Ich habe es dir bereits gesagt: Ich bin der Wind. Und du?«
    »Ich bin die Brise.«
    Er begann zu lachen und umfasste ihre Schultern.
    »Was machen der Wind und die Brise, wenn sie einander begegnen?«
     
    Sanft beugte er sich über sie. Sie lag ausgestreckt im Heu, und er war über ihr. Ganz nah war ihr dieser große, empfindsame Mund. Die Lippen waren ganz leicht zu einem ironischen, ein wenig grausamen Ausdruck verzogen, der ihr Angst machte, ohne dass sie wusste, warum. Doch sein Blick war zärtlich und

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