Angélique - In den Gassen von Paris
Brust strich und dort verweilte.
»Wie ihr Herzchen klopft«, spöttelte er halblaut. »Das spricht nicht für ein gutes Gewissen. Ziehen wir sie einmal unter die Ladenlaterne und schauen sie uns an.«
Mit einem Ruck riss sie sich los. Doch sofort wurde sie von zehn eisenharten Fäusten gepackt, und ein Hagel von Schlägen ging auf sie nieder.
»Miststück! Sollen wir dir wieder nachlaufen?«
Man zerrte sie zu der Laterne. Brutal griff Desgrez in ihr Haar und riss ihren Kopf nach hinten.
Angélique schloss die Augen. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich richtig zu säubern. Ihr Gesicht war so mit Blut und Schlamm verschmiert, dass Desgrez sie bestimmt nicht erkennen würde. Sie zitterte so heftig, dass ihre Zähne klapperten
Die Sekunden, in denen sie vom grellen Licht der Kerze beschienen wurde, kamen ihr wie Jahrhunderte vor. Schließlich ließ Desgrez sie los und knurrte enttäuscht.
»Nein, das ist sie nicht. Sie ist nicht die Marquise der Engel.«
Die Büttel fluchten.
»Woher wisst Ihr das, Monsieur?«, wagte einer von ihnen zu fragen.
»Ich habe sie schon einmal gesehen. Jemand hat sie mir auf dem Pont-Neuf gezeigt. Dieses Mädchen sieht ihr ähnlich, aber sie ist es nicht.«
»Buchten wir sie trotzdem ein. Sie kann uns vielleicht ein paar Auskünfte geben.«
Desgrez wirkte ratlos und schien zu überlegen.
»Also, etwas stimmt hier nicht«, meinte er dann nachdenklich. »Sorbonne irrt sich niemals. Und er hat das Mädchen nicht gepackt, sondern sie in Ruhe gelassen und ist ein paar Schritte von ihr stehen geblieben… Was dafür spricht, dass sie nicht gefährlich ist. Da haben wir wohl Pech gehabt«, schloss er seufzend. »Zum Glück habt Ihr wenigstens zwei Einbrecher geschnappt. Wo waren sie am Werke?«
»In der Rue du Petit-Lion, bei einem alten Apotheker namens Glazer.«
»Gehen wir noch einmal hin. Vielleicht finden wir eine Spur.«
»Und was machen wir mit dem Mädchen?«
Desgrez zögerte.
»Ich frage mich, ob wir sie nicht besser laufen lassen. Jetzt kenne ich ja ihr Gesicht und werde sie nicht vergessen.«
Die Büttel beharrten nicht darauf, sie festzuhalten. Sie gaben die junge Frau frei und verschwanden mit laut klappernden Sporen in der Dunkelheit.
Angélique huschte aus dem Lichtkreis. Erleichtert drückte sie sich an den Hauswänden entlang, wo es dunkel war. Doch dann erkannte sie einen weißen Fleck beim Brunnen. Sorbonne, der Hund, trank. Neben ihm erkante sie Desgrez’ schattenhafte Gestalt.
Erneut erstarrte Angélique. Sie sah, wie Desgrez seinen Mantel zurückschlug und etwas in ihre Richtung warf.
»Hier«, sagte der einstige Advokat, »ich gebe es dir wieder. Habe noch nie ein Mädchen bestohlen. Außerdem könnte sich für eine junge Dame, die um diese Uhrzeit spazieren geht, ein Dolch als sehr nützlich erweisen. Dann also guten Abend, meine Schöne.«
Doch Angélique schwieg.
»Entbietest du mir keinen guten Abend?«
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen.
»Guten Abend«, hauchte sie tonlos.
Sie hörte, wie sich der Polizist Desgrez entfernte und seine groben Nagelschuhe auf dem Pflaster knallten. Dann machte sie sich auf den Weg und irrte ziellos durch Paris.
Kapitel 6
B ei Sonnenaufgang befand sie sich am Rand des Quartier Latin in der Nähe der Rue des Bernardins. Über den Dächern des finsteren Kollegs nahm der Himmel einen rosigen Ton an. In den Dachfenstern spiegelten sich die Kerzenflammen der Studenten, die früh aufstanden. Angélique begegnete Männern, die gähnend und trüben Blickes aus dem Bordell oder von billigen Freudenmädchen heimkehrten, bei denen die jungen Hungerleider ein paar Stunden verbracht hatten. Sie musterten sie und riefen ihr unverschämte Bemerkungen zu. Ihre Kragen waren schmutzig, ihre ärmlichen, abgeschabten Serge-Anzüge rochen nach Tinte, und die schwarzen Strümpfe rutschen an ihren mageren Waden hinunter.
Eine nach der anderen begannen die Glocken der Kapellen zu läuten.
Angélique taumelte vor Müdigkeit. Sie war barfuß, denn sie hatte irgendwann beide Schuhe verloren. Als sie das Quai de la Tournelle erreichte, roch sie Heu.
Da lagen die Lastkähne mit ihrer leichten, wohlriechenden Ladung hintereinander vertäut, und ein Schwall des Wohlgeruchs stieg in die Pariser Morgenröte auf, der Duft Tausender getrockneter Blumen und die Verheißung sonniger Tage.
Angélique huschte zum Ufer hinunter. Ein paar Schritte entfernt wärmten die Schiffer sich an einem Feuer und sahen sie nicht. Sie glitt
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