Angélique - In den Gassen von Paris
unschuldigen Ausstrahlung, so sagte er, ähnele sie einer Madonna.
Beau-Garçons Antwort bewies, welch ein Abgrund an Unverständnis zwischen seiner Lebensauffassung und der der Marquise der Engel klaffte.
Begehrlich leuchteten die Augen des Luden auf.
»Genau für diese Art von Schönheit habe ich Kunden …«
Er zwinkerte vielsagend.
»Diese kleinen Teufel…«
In dem großen, gut geheizten Zimmer bekam es Angélique erneut mit der Angst zu tun.
Sie konnte es nicht leugnen, und dieses Mal hatte Meister Bourjus recht. Sie selbst war der Grund für diese besorgniserregende Belagerung der Bettler rund um den Kecken Hahn.
Sie wurden von der Gaunerzunft belagert. Dankbar dachte Angélique an den Magister, der sie gezwungen hatte, durch Paris zu gehen, und ihr dabei Geschichten von Schatzsuchern und verratenen Königen erzählt hatte, damit sie nicht verrückt wurde.
Wo steckte nur der Magister?
Angélique trat an das Bett, in dem Florimond und Cantor schliefen.
Florimonds lange, dunkle Wimpern beschatteten seine wie Perlmutt schimmernden Wangen. Sein Haar umgab seinen Kopf wie ein breiter, dunkler Heiligenschein. Cantor besaß fast ebenso dichtes, üppiges Haar. Aber seine Locken waren goldbraun, während Florimonds Haar schwarz wie Rabengefieder blieb.
Angélique erkannte, dass Cantor »nach ihrer Seite ausschlug«. Er gehörte eindeutig zu den raffinierten und zugleich bäuerlichen Sancés von Monteloup. Nicht sentimental, aber leidenschaftlich. Nicht besonders gebildet, aber einfach. Mit seinem Sturkopf erinnerte Cantor sie an Josselin, mit seiner Ruhe an Raymond und mit seiner Liebe zur Einsamkeit an Gontran. Körperlich sah er Madelon sehr ähnlich, ohne jedoch deren Sensibilität zu besitzen.
Dieses rundliche Kerlchen mit den klaren, scharfsinnig blickenden Augen war bereits eine Welt für sich, eine Kombination aus jahrhundertelang überlieferten Tugenden und Fehlern. Solange man ihm seine Freiheit und Unabhängigkeit ließ, wuchs er ohne Probleme heran. Doch als Barbe versucht hatte, ihm wie allen Säuglingen seines Alters die Gliedmaßen fest an den Körper zu wickeln, hatte sich der friedliche Cantor, nachdem er ein paar Augenblicke lang verblüfft geschwiegen hatte, in einen regelrechten Wutanfall hineingesteigert.
Nach zwei Stunden hatten die Nachbarn, die von seinem Gebrüll beinahe taub geworden waren, seine Befreiung verlangt.
Barbe behauptete, Angélique zöge Florimond vor und kümmere sich nicht um ihren jüngeren Sohn. Angélique entgegnete dann, das läge eben daran, dass man sich um Cantor nicht zu kümmern bräuchte. Cantors Haltung zeigte eindeutig, dass er vor allem in Ruhe gelassen werden
wollte; während der empfindsame Florimond es liebte, wenn man sich mit ihm beschäftigte, zu ihm sprach und seine Fragen beantwortete. Florimond benötigte viel Fürsorge und Liebe.
Das Band zwischen Angélique und Cantor brauchte weder Worte noch Gesten. Sie waren vom selben Schlag. Sie betrachtete ihn, bewunderte sein rosiges, rundliches Fleisch und ermaß die Kostbarkeit dieses kleinen Wesens, das noch nicht einmal ein Jahr alt war und von seiner Geburt an –nein, eigentlich schon vorher, dachte sie – um sein Leben gekämpft und sich stur dem Tod widersetzt hatte, der schon so oft seine zerbrechliche Existenz bedroht hatte.
Cantor war ihre Kraft und Florimond ihre Zerbrechlichkeit. Sie standen für die beiden Pole ihres Wesens.
Drei schreckliche Monate kündigten sich an.
Fast jedes Jahr erlebte das weite und dicht bevölkerte Königreich Frankreich eine Hungersnot, sei es wegen der winterlichen Dürre, wegen schlechter Ernten oder eines Provinzaufstands. Vor allem in der Hauptstadt wurde das durch die große Bevölkerung, die es zu ernähren galt, besonders spürbar.
Daher war die Hungersnot, von der Angélique gesprochen hatte, nicht nur ein vages Gerücht. Noch vor Mitte Januar stand sie vor den Toren von Paris. Die Ernte des letzten Jahres war schlecht gewesen. Auf dem Land lebten noch viele Soldaten, die trotz des Pyrenäenvertrags nicht aus dem Dienst entlassen waren. Und vor allem waren den Spekulanten Tür und Tor geöffnet.
Unter dem Schutz ihrer Innungen, die Jahrhunderte Zeit gehabt hatten, sich gegen diese regelmäßig auftretenden Übel zu wappnen, litten die Berufe, die mit Nahrungsmitteln zu tun hatten, weniger als andere.
Bäcker, Metzger und Bratköche hatten immer noch zu
essen; aber die Versorgung mit Nachschub wurde immer schwieriger, und die
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