Angelique und der Koenig
mit den Wimpern zu zucken über Leichen gingen. Er kannte solche. Die »Andere« beispielsweise. Aber diese hier war nicht von der gleichen Art, obwohl sie zu kämpfen verstand.
Er sah, dass sie ihren Mantel nahm, nachdem sie die Gegenstände und den Brief, den er ihr eben gebracht, in ein Kästchen eingeschlossen hatte.
»Madame, wohin wollt Ihr?«
»Ich muss ausgehen.«
»Gefährlich. Die Frau Marquise gestatte mir, sie zu begleiten.«
Sie nickte zustimmend.
Draußen war es noch finster, finsterer als zu anderen Nachtstunden, denn die dicken Fünf-Stunden-Kerzen waren heruntergebrannt und die Laternen ausgelöscht.
Angélique brauchte nicht sehr weit zu gehen. Nach kurzer Zeit hob sie den bronzenen Klopfer eines Hoftors, und als der verschlafene Pförtner die Nase aus dem Gitterfenster seiner Loge steckte, verlangte sie Monsieur de La Reynie zu sprechen.
Fünfzigstes Kapitel
Der König war noch nicht von der Messe zurück, als Angélique sich unter die Menge der Höflinge mischte, die auf die Majestäten im Merkursaal von Versailles warteten, wohin diese tags zuvor zurückgekehrt waren. Bei der Übersiedlung von Saint-Germain nach Versailles mochte ihre Abwesenheit, so hoffte Angélique, unbemerkt geblieben sein. Sie fand sich zu durchaus geziemender Stunde ein, und ihr sorgfältig geschminktes Gesicht verriet nichts von den Anstrengungen und Ängsten der Nacht. Sie eroberte sich allmählich die unglaubliche Widerstandskraft der Damen von Welt, die ihnen gleich den Komödiantinnen erlaubte, mühelos in eine andere Haut zu schlüpfen und sich aus einer von durchwachter Nacht und vierstündiger Fahrt erschöpften Frau in eine große Dame mit glattem Teint und strahlendem Lächeln zu verwandeln. Sie grüßte nach rechts und links, erkundigte sich höflich nach diesen und jenen. Man unterhielt sich noch angelegentlich über die herrliche Reise nach Flandern, an deren Ziel Madame sich nach England eingeschifft hatte, um ihrem Bruder Karl II. einen Besuch abzustatten. Es hieß, Madame werde bald zurück sein, und ihre Verhandlungen nähmen einen günstigen Verlauf. Die reizende, üppige Bretonin Mademoiselle de Kerouaille, die Madame in ihrem Gepäck mitgenommen habe, sei nicht das geringste der politischen Mittel gewesen, die den jungen Karl II dazu bestimmen sollten, sich aus dem Dreibund zu lösen und seinem Schwager Ludwig XIV die Freundeshand zu reichen. Lächelnd wies man darauf hin, dass Mademoiselle de Kerouaille zwar über ein hübsches Gesicht verfüge, dass ihre Rundlichkeit jedoch manchen Männern missfallen dürfe. Aber Madame kenne den Geschmack des englischen Monarchen genau, der, wie es scheine, für das Zarte nicht viel übrig habe und die Substanz dem Gefühl vorziehe.
Unauffällig zog sich Angélique an eins der Fenster der großen Galerie zurück. Es war schön draußen. Von den Parterres drang das Geräusch der vielen von den Gärtnern gehandhabten Rechen herauf, und sie erinnerte sich jenes ersten Morgens, an dem sie neben Barcarole die Sonne über Versailles hatte aufgehen sehen, »wo ein jeder einsamer und gefährdeter ist als an irgendeinem anderen Ort der Erde«.
Mit erhobenem Kopf und sicheren Schritten durchquerte sie dann die große Galerie, um zum Südflügel zu gelangen, und betrat dort das Appartement, das ihr Bruder Gontran einstmals ausgemalt hatte. Madame de Montespan saß vor dem Frisiertisch in ihrem Ankleideraum. Ihre Damen, die sich schwatzend um sie bemühten, verstummten beim Anblick Angéliques.
»Guten Tag, meine liebe Athénaïs«, sagte sie in munterem Ton. Die Favoritin fuhr auf ihrem mit Seide bezogenen Schemel herum. Schon seit geraumer Zeit hatten sie das Stadium des Scheinfriedens überschritten. Keine von ihnen gab sich mehr die Mühe zu heucheln, nicht einmal in der Öffentlichkeit. Athénaïs de Montespans blaue Augen musterten argwöhnisch die Rivalin. Gewiss verbarg sich hinter deren Liebenswürdigkeit etwas Ungewöhnliches.
Angélique ließ sich auf ein kleines Sofa nieder, das mit der gleichen Seide bezogen war wie der Schemel und das Lesepult. Die Möbel waren reizend, aber sie fand, dass die blauen Blumenmuster schlecht zu den goldenen Schilfrohren passten, die die Wände gliederten.
»Ich habe interessante Neuigkeiten für Euch.«
»Wirklich?«
Mademoiselle Désoeillet wurde bleich. Der große, mit Perlen besetzte Schildpattkamm, den sie über das blonde Haar ihrer Herrin hielt, begann zu zittern. Die andern Mädchen machten neugierige Augen. Madame de
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