Angelique und der Koenig
gewöhnlichen Sterblichen dachten, denen die vergoldeten Türen verschlossen blieben.
Der Marquis du Plessis-Bellière gehörte der zweiten Gruppe an. Angélique wartete, bis sie ganz sicher sein konnte, dass er das königliche Schlafgemach betreten hatte. Dann eilte sie ins obere Stockwerk hinauf und hatte alle Mühe, sich in dem Labyrinth der Gänge zurechtzufinden, in dem wie am Abend zuvor namenloses Durcheinander herrschte.
Als sie Philippes Kammer betrat, polierte der Sieur La Violette eben die Degen seines Herrn und summte munter ein Lied dazu. Beflissen erbot er sich, die Frau Marquise zu schnüren, doch Angélique wies ihn kurzerhand hinaus. Sie zog sich, so gut es ging, ohne Hilfe an, weil sie nicht die Zeit hatte, sich auf die Suche nach Javotte oder einer anderen Zofe zu machen. Dann lief sie von neuem hinunter und kam gerade noch zurecht, um die Königin mit ihrem kleinen Gefolge vorbeiziehen zu sehen. Trotz des Puders, mit dem Maria-Theresia ihr Puppengesicht hatte bedecken lassen, war ihre gerötete Nase nicht zu übersehen. Sie hatte die ganze Nacht mit Weinen verbracht. Der König war nicht gekommen, nicht einmal ein Viertelstündchen, wie sie ihren Hofdamen bekümmert anvertraute, und das war eine gar seltene Unterlassungssünde, denn Ludwig XIV ließ es sich stets angelegen sein, den Schein zu wahren, indem er regelmäßig, wenn auch nur für »ein Viertelstündchen«, ins Ehebett schlüpfte. Meistens, um zu schlafen, aber immerhin, er kam. Diesmal war es gewiss wieder diese La Vallière gewesen, die ihn am Tag zuvor bei der Jagd in den Wäldern als Amazone von neuem berückt hatte.
Der Zug der Königin begegnete dem der La Vallière, die sich gleichfalls zur Kapelle begab. Maria-Theresia beachtete sie nicht. Höchst würdevoll schritt sie vorbei, nur ihre spanische Lippe bebte vor unterdrückten Schluchzern und Schmähungen. Die Favoritin erwies ihr demütig ihre Reverenz. Als sie sich wieder aufrichtete, nahm Angélique den gehetzten Ausdruck ihrer sehr sanften blauen Augen wahr. Im Pomp und Glanz von Versailles war sie nicht mehr Jägerin, sondern umstellte Hindin. Angélique fand ihr Urteil bestätigt: die Favoritin hatte ihren Höhepunkt überschritten. Sie würde bald in der Gunst des Königs sinken, wenn es nicht überhaupt schon so weit war! Maria-Theresia hatte unrecht, sie zu fürchten. Es gab in ihrer nächsten Umgebung Rivalinnen, die schon auf ihre Stunde warteten und sehr viel gefährlicher waren.
Wenig später kehrte der König aus der Kapelle zurück und begab sich in die Gärten. Man hatte ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass einige Skrofelkranke aus den nächstgelegenen Dörfern sich in der Hoffnung hinter dem Gitter versammelt hatten, dass ihnen die wunderwirkende Berührung des Monarchen zuteil werde. Der König konnte es ihnen nicht verweigern. Es waren ihrer nicht viele, und so würde die Zeremonie nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Danach wollte er die Gesuche der Bittsteller entgegennehmen.
Eine Hand legte sich auf Angéliques Schulter und ließ sie zusammenzucken. Sie sah eine dunkel gekleidete Gestalt vor sich, die sie im ersten Augenblick nicht unterzubringen wusste. Eine rauhe, tiefe, gebieterische Stimme drang an ihr Ohr:
»Ihr müsst mir sofort eine Unterredung in einer dringenden Angelegenheit gewähren, Madame.«
»In welcher Angelegenheit, Monsieur?« fragte Angélique verwirrt. Ohne zu antworten, drängte er sie in einen Winkel der Galerie. Und nun erkannte sie in ihm Monsieur Colbert, den neuen Oberintendanten der Finanzen, Mitglied des Staatsrats. Inzwischen hatte ihm ein Beamter, der ihm gefolgt war, eine mit Aktenstücken prall gefüllte Tasche aus schwarzem Samt ausgehändigt. Er entnahm ihr ein gelbes Blatt.
»Ihr wisst, Madame«, begann er, »dass ich weder Hofmann noch Edelmann bin, sondern Tuchhändler. Nun, als wir das letzte Mal miteinander zu tun hatten, erfuhr ich, dass Ihr Euch, obwohl von Adel, mit Handelsgeschäften befasst... Ich wende mich also an Euch als ein Mitglied der Kaufmannszunft, um Euch um einen Rat zu bitten…«
Er bemühte sich, seinen Worten einen scherzhaften Ton zu geben, aber es fiel ihm sichtlich schwer. Angélique war empört. Wann würden diese Leute endlich aufhören, ihr ihre Schokolade vorzuwerfen? Sie presste die Lippen zusammen. Doch als sie Colbert ansah, bemerkte sie, dass auf seiner Stirn trotz der Kälte Schweißperlen standen. Seine Perücke hatte sich ein wenig verschoben, und er war so schlecht rasiert, dass er
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