Angerichtet
Handy noch in der Hand? Oder hatte ich es da schon wieder auf seinen Schreibtisch zurückgelegt? Nur so. Ich habe dich gesucht. Oder war es vielleicht möglich …? Aber dann hätte ich meine Jacke bereits angehabt. Ich lief zu Hause nie in der Jacke herum. Ich versuchte zu rekonstruieren, weshalb ich mit der Jacke an nach oben gegangen sein konnte, ins Zimmer meines Sohnes. »Keine Ahnung«, antwortete ich dann möglichst locker. »Ich bin genauso überrascht wie du. Sie ähneln sich zwar etwas, unsere Handys, aber ich weiß wirklich nicht, wie …«
»Ich habe es überall gesucht«, unterbrach mich Michel. »Also habe ich mich selbst angerufen, um zu hören, ob es irgendwo klingelt.«
Das Foto seiner Mutter auf dem Display. Er hatte vom Festnetz aus telefoniert, auf dem Display seines Handys erschien also ein Foto von seiner Mutter, wenn er mit zu Hause verbunden war. Nicht von seinem Vater, schoss es mir durch den Kopf. Oder von uns beiden. Aber dann überlegte ich, wie lächerlich das wäre, ein Foto von seinen Eltern auf dem Sofa im Wohnzimmer, lachend Arm in Arm: Ein glückliches Paar. Papa und Mama rufen mich an. Papa und Mama wollen mich sprechen. Papa und Mama lieben mich mehr als alles auf der Welt.
»Tut mir leid, mein Lieber. Wie dumm von mir, dass ich dein Handy eingesteckt habe. Dein Vater wird alt.« Zu Hause war Mama. Zu Hause war Claire. Ich fühlte mich nicht übergangen, stellte ich fest, irgendwie beruhigte es mich sogar. »Wir bleiben hier nicht mehr so lange. In ein paar Stunden hast du dein Handy wieder.«
»Aber wo seid ihr denn? Ach ja, ihr seid ja essen gegangen. Das ist doch das Restaurant in dem Park, gegenüber vom …« Michel nannte den Namen der Normalo-Kneipe. »Das ist ja nicht weit.«
»Mach dir keine Mühe. Du bekommst es ja gleich zurück. In höchstens einer Stunde.« Klang ich noch immer locker? Gut gelaunt? Oder konnte man aus meiner Stimme heraushören, dass ich es nicht so gerne hätte, wenn er zum Restaurant käme, um dort sein Handy abzuholen?
»Das dauert mir zu lange. Ich brauche … ich brauche ein paar Nummern, ich muss jemanden anrufen.« Hörte ich ihn wirklich zögern oder lag es einfach an kurzen Unterbrechungen im Netz?
»Ich kann sie ja schnell für dich raussuchen. Wenn du mir sagst, welche Nummern du brauchst …«
Nein, das war jetzt der komplett falsche Ton. So ein toller Vater wollte ich auch gar nicht sein: Ein Vater, der im Handy seines Sohnes herumschnüffeln darf, weil es zwischen Vater und Sohn »keine Geheimnisse voreinander« gibt. Ich war schon dankbar genug, dass Michel mich noch »Papa« und nicht »Paul« nannte. Irgendwie störte mich dieses Gehabe mit den Vornamen furchtbar: Siebenjährige Kinder, die »Joris« zu ihrem Vater sagten oder »Wilma« zu ihrer Mutter. Diese Art der Lockerheit war nicht die richtige und kehrte sich schließlich immer gegen die Eltern. Von »Joris« und »Wilma« war es nur noch ein winziger Schritt zu: »Ich hatte doch Erdnussbutter gesagt, Joris?«, worauf das Butterbrot mit Schokostreuseln zurück in die Küche geschickt wird und dort im Mülleimer landet.
Ich kannte sie zur Genüge aus meiner Umgebung: Eltern, die ein treudoofes Gesicht aufsetzten, wenn ihre Kinder in diesem Ton mit ihnen sprachen. »Ach, heutzutage kommen sie doch schon immer früher in die Pubertät«, sagten sie dann beschönigend. Sie waren zu kurzsichtig oder einfach zu ängstlich, um sich einzugestehen, dass sie unter einem Terrorregime lebten. Tief in ihrem Herzen hofften sie natürlich darauf, dass ihre Kinder einen Joris und eine Wilma länger toll finden würden als einen Papa und eine Mama.
Ein Vater, der im Handy seines fünfzehnjährigen Sohnes nachschaute, der rückte zu nahe. Mit einem Blick würde er erkennen, wie viele Mädchennamen die Telefonliste umfasste oder welche aufreizenden Fotos als Hintergrundbild auf den Display heruntergeladen worden waren. Nein, mein Sohnund ich hatten ganz bestimmt Geheimnisse voreinander, wir respektierten unsere Privatangelegenheiten, wir klopften an die Zimmertür, wenn sie zu war. Und wir kamen zum Beispiel auch nicht nackt und ohne umgewickeltes Handtuch aus dem Badezimmer, weil es da doch nichts zu verbergen gab, wie es in Joris-und-Wilma-Familien üblich war – nein, Letzteres schon gar nicht!
Doch ich hatte bereits in Michels Handy geschaut. Ich hatte Sachen gesehen, die nicht für meine Augen bestimmt waren. Aus Michels Sicht war es lebensgefährlich, wenn ich noch länger als
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