Angerichtet
3. Video Favoriten.
Wie bereits vor ein paar Stunden (einer Ewigkeit) in Michels Zimmer, drückte ich auf 3. Video Favoriten; es war nicht so sehr eine Ewigkeit, sondern eher ein Wendepunkt, eine Demarkationslinie zwischen vor und nach dem Krieg.
Der Screenshot des zuletzt aufgenommenen Videos war von einer blauen Linie eingerahmt; das war der Film, den ich vor einer Ewigkeit gesehen hatte. Ich wählte das Video davor, drückte auf Optionen und dann auf Abspielen.
Ein Bahnhof. Ein Bahnsteig, offenbar eine Haltestelle der U-Bahn. Ja, eine überirdische U-Bahn-Haltestelle. Irgendwo in einem dieser Außenviertel, nach den im Hintergrund zu urteilenden Wohnsilos. Vielleicht Südost oder Slotervaart.
Eigentlich kann ich auch mit offenen Karten spielen. Ich erkannte die U-Bahn-Station. Ich wusste sofort, um welche U-Bahn-Station es sich handelte, wusste, wo sie war und zu welcher U-Bahn-Linie sie gehörte – ich will das nur nicht so an die große Glocke hängen, und es wäre im Moment auch niemandem damit gedient, wenn ich die Station nennen würde.
Die Kamera bewegte sich nach unten und folgte von hinten einem Paar weißer Sportschuhe, die sich mit einem gewissen Tempo über den Bahnsteig bewegten. Dann bewegte sich die Kamera wieder nach oben und ein Mann erschien im Bild, ein etwas älterer Mann, ich vermute, so um die sechzig, auch wenn das bei solchen Leuten oft etwas schwierig einzuschätzen ist. Jedenfalls gehörten ihm ganz bestimmt nicht die Sportschuhe. Als die Kamera näher dranging, konnte man sein unrasiertes und leicht fleckiges Gesicht erkennen. Wahrscheinlich ein Bettler, ein Penner. Etwas in der Art.
Ich spürte dieselbe Kälte, wie bereits zuvor am Abend in Michels Zimmer, eine Kälte, die von innen kam.
Neben dem Kopf des Obdachlosen tauchte nun das Gesicht von Rick im Bild auf. Der Sohn meines Bruders grinste in die Kamera. »Take one« , sagte er. »Action!«
Ohne vorherige Ankündigung schlug er dem Mann mit der flachen Hand ins Gesicht, halb aufs Ohr. Es war ein ziemlich heftiger Schlag und der Kopf knallte zur Seite. Der Mann verzog das Gesicht und hielt sich beide Hände an die Ohren, als wolle er damit weitere Prügel abwehren.
»You’re a piece of shit, motherfucker!«, brüllte Rick, nicht ganz ohne Akzent, wie ein niederländischer Schauspieler in einem amerikanischen oder englischen Spielfilm.
Die Kamera ging noch näher heran, so nah, dass auf dem Display nur das unrasierte Gesicht des Penners zu sehen war. Er zwinkerte mit den wässrigen, rotunterlaufenen Augen und murmelte unverständliche Worte.
»Sag mal Jackass «, erklang eine neue Stimme, sie kam von außerhalb des Bildes, und ich erkannte sie sofort als die Stimme meines Sohnes.
Der Kopf des Penners verschwand aus dem Bild, und da war wieder Rick. Mein Neffe blickte in die Kamera und zog eine absichtlich blöde Grimasse. »Don’t try this at home« , sagte er und hob erneut die Hand, man konnte sehen, wie er zum Schlag ausholte, den anschließenden Treffer jedoch nicht.
»Sag mal Jackass« , hörte ich wieder Michels Stimme.
Erneut tauchte der Kopf des Penners im Bild auf – die Wohnsilos im Hintergrund waren nicht mehr zu sehen, nur noch ein Stückchen grauer Bahnsteig, dahinter die Bahngleise – aber da lag er schon auf dem Boden. Seine Lippen bebten, die Augen hielt er geschlossen.
»Jack … jack … ass«, sagte er. Dann stoppte das Video. Während der nun eintretenden Stille hörte ich nur noch das Plätschern des Wassers, das über die Pinkelwand floss.
»Wir müssen uns über unsere Kinder unterhalten«, hatte Serge gesagt – wie lange war das her?
Eine Stunde? Zwei Stunden?
Am liebsten würde ich hier bis morgen früh hocken bleiben und von der Putzkolonne gefunden werden.
Ich stand auf.
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20
Als ich den Speisesaal betrat, zögerte ich.
Michel konnte jetzt jeden Augenblick auftauchen, um sich sein Handy abzuholen (jedenfalls war er noch nicht da, sah ich, als ich ein paar Schritte vorging und dann stehen blieb: an unserem Tisch saßen nur Claire, Babette und Serge).
Schnell machte ich einen Schritt zur Seite und trat hinter eine große Palme. Ich schaute durch die Blätter hindurch, hatte aber nicht den Eindruck, dass sie mich bemerkt hatten.
Es sprach einiges dafür, Michel hier abzufangen, überlegte ich. Hier im Vorraum oder bei der Garderobe; noch besser wäre es natürlich draußen im Garten. Ja, ich musste in den Garten, dann konnte ich Michel alleine entgegengehen und ihm dort sein
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