Angerichtet
Handy übergeben. Ungestört, ohne Blicke und eventuelle Fragen von Mutter, Onkel oder Tante.
Ich drehte mich um und ging hinaus, an dem Mädchen am Stehpult vorbei. Ich hatte keinen vorgefassten Plan. Ich musste irgendwas zu meinem Sohn sagen. Aber was? Ich beschloss, erst einmal abzuwarten, ob er vielleicht selbst mit irgendwas anfangen würde – ich würde dann genau auf seine Augen achten, nahm ich mir vor, seine ehrlichen Augen, die immer so schlecht hatten lügen können.
Ich lief über den Kiesweg mit den elektrischen Fackeln und bog dann, wie bereits früher an diesem Abend, links ein. Es lag nahe, dass Michel denselben Weg wie wir nehmen undüber die Brücke kommen würde, die gegenüber von der Kneipe lag. Es gab zwar noch einen anderen Parkeingang, der eigentliche Haupteingang, aber dann müsste er ein ziemliches Stück durch die Dunkelheit radeln.
An der Brücke blieb ich stehen und schaute mich um. Niemand zu sehen. Das Fackellicht war hier nur noch ein blasser gelblicher Schein, nicht viel stärker als das Licht von ein paar Kerzen.
Die Schwärze der Nacht konnte vielleicht auch von Vorteil sein. Im Dunkeln, wenn wir unsere Augen nicht sehen könnten, wäre Michel vielleicht eher bereit, die Wahrheit zu sagen.
Was dann? Was würde ich mit der »Wahrheit« anfangen? Ich rieb mir die Augen. Jedenfalls musste ich gleich einen wachen Eindruck machen. Ich hauchte in die hohle Hand, atmete aus und schnupperte. Ja, ich roch nach Alkohol, nach Bier und Wein, aber alles zusammengerechnet hatte ich bis jetzt keine fünf Gläser getrunken, überschlug ich. Ich hatte mir extra vorgenommen, mich heute Abend etwas zurückzuhalten, ich wollte Serge nicht die Gelegenheit geben, punkten zu können, weil ich träge und müde war. Ich kannte mich, und ich wusste, dass ein Abend im Restaurant nach einer bestimmten fragilen Dramaturgie verläuft und dass ich im Schlussakt nicht mehr die Energie aufbringen würde, ihm noch Kontra zu geben, wenn er dann von unseren Kindern anfinge.
Ich guckte zur anderen Seite der Brücke und zu den Lichtern der Kneipe hinter den Sträuchern auf der anderen Straßenseite.
Eine Straßenbahn fuhr ohne anzuhalten an der Haltestelle vorbei, danach wurde es wieder stiller.
»Jetzt komm schon!«, sagte ich laut.
Und genau in diesem Moment, als ich meine eigene Stimme hörte – von meiner eigenen Stimme wachgerüttelt wurde, könnte man besser sagen –, begriff ich plötzlich, was ich zu tun hatte.
Ich holte Michels Handy hervor und schob den Slider hoch.
Ich drückte auf: Anzeigen.
Ich las die beiden Nachrichten: die erste zeigte eine Telefonnummer, mit der Mitteilung, dass keine Nachricht hinterlassen wurde; in der zweiten stand, dass dieselbe Nummer »1 neue Nachricht« hinterlassen hatte.
Ich verglich die Zeiten unter den beiden Nachrichten. Zwischen der ersten und der zweiten lagen nur zwei Minuten. Das war vor ungefähr einer Viertelstunde gewesen, als ich ein Stück weiter im Park mit meinem Sohn telefoniert hatte.
Ich drückte zweimal hintereinander auf »Optionen« und danach auf »Löschen«.
Danach tippte ich die Nummer der Mailbox.
Gleich, wenn Michel sein Handy wieder zurückbekam, würden die Anrufe in Abwesenheit nicht mehr angezeigt werden, überlegte ich mir, dann würde es auch keinen Grund geben, die Mailbox abzuhören – jedenfalls vorerst nicht.
»Yo!«, hörte ich, nachdem die vertraute Stimme der Mailboxansagerin verkündet hatte, dass es eine neue Nachricht gab (und auch noch zwei alte). »Yo! Rufst du noch zurück, oder was?«
Yo! Seit ungefähr einem halben Jahr hatte Beau sich einen »afro-amerikanischen« Look zugelegt, mit New-York-Yankees-Mütze und dem dazugehörigen Slang. Aus Afrika hatte man ihn hierher gebracht, und bis vor Kurzem hatte er noch immer ein gutes Hochniederländisch gesprochen, nicht so wie der normale Niederländer, sondern ein Niederländisch, wie es in den Kreisen meines Bruders und meiner Schwägerin gepflegt wurde: das sogenannte akzentfreie Niederländisch, das man in Wirklichkeit aber aus tausend Akzenten als das Niederländisch der gehobenen Schicht erkennen konnte; das Niederländisch, wie man es auf dem Tennisplatz und im Vereinslokal des Hockeyklubs sprach.
Afrika musste für Beau ein Synonym für arm und hilfsbedürftig sein. Irgendwann hatte Beau offenbar in den Spiegel geschaut und beschlossen, dass er kein richtiger Afrikaner war. Aber ein Niederländer würde er auch niemals werden, auch nicht mit seinem
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