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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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passiert, das nie mehr rückgängig gemacht werden konnte. Es erscheint unsinnig, vermutlich ist es sogar Unsinn, aber die simple Tatsache, dass mein Sohn und ich uns heute Abend nicht das Sportjournal anschauen konnten, trieb mir fast die Tränen in die Augen. Ich dachte an Claire im Krankenhaus, seit ein paar Tagen hatte sie zum Glück ein Zimmer für sich allein, zuvor hatte sie mit einem stinkenden und rumpelnde Fürze lassenden alten Weib ein Zimmer geteilt. Wenn ich sie besuchte, versuchten wir die ganze Zeit so zu tun, als würden wir es nicht hören, doch nach ein paar Tagen hatte Claire dermaßen die Nase voll davon, dass sie nach jedem Furz demonstrativ mit ihrem Deospray herumsprühte. Es war gleichzeitig zum Heulen und zum Lachen, doch nach der Besucherstunde ging ich bei der Stationsschwester vorbei und bat sie dringend um ein Einzelzimmer. Der Blick des Zimmers ging zum Seitenflügel des Krankenhauses hinaus, wenn es dunkel wurde und die Lichter angingen, konnte man die Kranken im Seitenflügelin ihren Betten liegen sehen, wie sie sich in den Kissen aufsetzten, um eine warme Mahlzeit zu essen. Wir hatten vereinbart, dass ich sie am heutigen Abend, dem Abend vor der Operation, nicht besuchen käme, sondern bei Michel bliebe. So normal wie möglich. Doch jetzt dachte ich an Claire, meine Frau alleine in ihrem Zimmer, an die eintretende Dämmerung und den Ausblick auf die erleuchteten Fenster und die Kranken, und ich fragte mich, ob unsere Entscheidung richtig gewesen war. Vielleicht hätte ich den Babysitter bestellen sollen, um an diesem Abend, genau an diesem Abend, bei meiner Frau sein zu können.
    Ich nahm mir vor, sie gleich anzurufen. Gleich, wenn Serge und Babette weggegangen waren und Michel im Bett wäre. Ja, sie sollten jetzt wirklich abziehen, damit Michel und ich endlich mit unserem Abendessen, unserem sowieso bereits verpfuschten Abendessen, beginnen konnten.
    Blitzartig kam mir ein ganz anderer Gedanke. Ein Gedanke wie ein Albtraum. Ein Gedanke, von dem man nachts schweißgebadet erwacht, die Bettdecke liegt auf dem Boden, das Kissen ist nass vom eigenen Schweiß, das Herz pocht – doch es fällt Licht ins Schlafzimmer, es ist nicht wirklich etwas passiert, es war nur ein Traum.
    »Wart ihr heute noch bei Claire?«, erkundigte ich mich – ich hatte einen freundlichen und beiläufigen, einen heiteren Ton gewählt, ich wollte unter allen Umständen vermeiden, dass sie durchschauten, wie schlimm ich in Wirklichkeit dran war.
    Serge und Babette sahen mich an, ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie meine Frage überraschte. Aber das hatte noch nicht viel zu sagen, vielleicht überraschte sie mein plötzlicher Wandel, kurz zuvor hatte ich sie immerhin noch aufgefordert, nun zu gehen.
    »Nein«, sagte Babette. »Das heißt …« Mit einem Blick suchte sie Unterstützung bei meinem Bruder. »Ich habe noch mit ihr gesprochen, heute Nachmittag.«
    Es war also wirklich passiert. Das Undenkbare hatte tatsächlich stattgefunden. Es war kein Traum. Die Idee, Michel hier rauszuholen, kam von meiner eigenen Frau. Heute Nachmittag hatte sie mit Babette telefoniert, und dann wurde die Idee geboren. Vielleicht noch nicht einmal von ihr. Vielleicht hatte Babette zuerst damit angefangen, aber Claire hatte sich, da sie durch ihren Zustand geschwächt war und damit das Drängen ein Ende hatte, einverstanden erklärt. Ohne zuerst mit mir darüber zu sprechen.
    Sollte das der Fall sein, steht es um mich wahrscheinlich schlechter, als ich es selbst einschätzen kann, überlegte ich. Wenn meine Frau es für sinnvoller hält, wichtige Entscheidungen, die unseren Sohn betreffen, ohne mich zu treffen, dann habe ich dazu wahrscheinlich selbst den Anlass gegeben.
    Ich hätte Michels Zimmer aufräumen müssen, überlegte ich. Ich hätte den Wäschekorb leeren müssen, die Waschmaschine hätte laufen müssen, als Serge und Babette klingelten, ich hätte die Zeitungen auf dem Bett in Plastiktüten verstauen müssen, und diese Plastiktüten hätte ich in den Flur an die Eingangstür stellen müssen, als hätte ich gleich vorgehabt, sie zum Altpapiercontainer zu bringen. Doch dafür war es nun zu spät. Ich überlegte, dass es wahrscheinlich sowieso zu spät gewesen wäre. Serge und Babette waren mit einem abgekarteten Plan hier aufgetaucht, und wenn Michel und ich im Dreiteiler mit Krawatte, Damasttischtuch und Silberbesteck am gedeckten Tisch diniert hätten, hätten sie sich irgendetwas anderes überlegt, damit sie meinen

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