Angerichtet
ich noch einmal.
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36
»Die Brombeeren kommen aus eigenem Garten«, erläuterte der Maître d’hôtel. »Das Parfait wurde mit hausgemachter Schokolade zubereitet, und hier haben wir feine Mandelsplitter, vermischt mit geriebenen Walnüssen.«
Mit dem kleinen Finger deutete er auf ein paar Unebenheiten in der braunen Sauce, einer Sauce, die meiner Meinung nach zu dünn geraten war – für ein »Parfait« jedenfalls dünner als es beabsichtigt gewesen sein konnte –, und die zwischen den Brombeeren hindurch auf den Boden des Schälchens gesickert war.
Ich bemerkte, wie Babette das Schälchen beäugte. In ihrem Blick las ich Enttäuschung – eine Enttäuschung, die während der Auslegungen des Maître d’hôtel in unverhüllte Abneigung überging.
»Ich will das nicht«, sagte sie, als er ausgeredet hatte.
»Pardon?«, sagte der Maître d’hôtel.
»Ich will das nicht. Nehmen Sie es bitte wieder mit.«
Kurz dachte ich, sie würde das Schälchen von sich wegstoßen, doch sie lehnte sich besonders weit zurück, um einen möglichst großen Abstand zwischen sich und das misslungene Dessert zu bringen.
»Aber Sie haben es doch bestellt.«
Zum ersten Mal, seit der Maître d’hôtel die Desserts vor uns hingestellt hatte, hob sie den Kopf und sah ihn an. »Ichweiß, was ich bestellt habe. Aber ich möchte es nicht mehr. Ich möchte, dass Sie es wieder mitnehmen.«
Ich sah, wie Serge anfing, an seiner Serviette herumzunesteln, eine Spitze führte er zu einem eingebildeten Fleck am Mundwinkel und wischte ihn weg; währenddessen versuchte er mit Babette Blickkontakt aufzunehmen. Serge hatte für sich als Dessert eine Dame blanche gewählt. Vielleicht war ihm Babettes Verhalten peinlich, naheliegender war aber, dass er keine weitere Verzögerung ertragen konnte. Er wollte jetzt sein Dessert essen. Mein Bruder suchte sich auf der Karte immer die Allerweltsdesserts aus. Vanilleeis mit Sahne, Crépe mit Sirup, viel weiter kam er nicht. Manchmal dachte ich schon, es liege vielleicht an seinem Blutzuckerspiegel, derselbe Blutzuckerspiegel, der ihn zu den ungelegensten Momenten mitten in der Pampa im Stich ließ. Aber es hatte auch etwas mit seinem allzu deutlichen Mangel an Fantasie zu tun. So gesehen befanden sich eine Dame blanche und die Tournedos auf ein und derselben Linie. Allerdings hatte es mich außerordentlich überrascht, dass es hier in diesem Etablissement einen solch grundsoliden Nachtisch auf der Speisekarte gab.
»Köstlichere Brombeeren finden Sie sonst nirgendwo«, sagte der Maître d’hôtel.
»Mensch, jetzt nimm doch endlich das Schälchen mit und verzieh dich!«, fluchte ich innerlich. Das war auch wieder einmal so was. In jeder normalen Gaststätte oder eigentlich sollte man sagen: in jedem ernst zu nehmenden Restaurant in Europa, außer in den Niederlanden, würden ein Ober oder ein Maître d’hôtel nie auf die Idee kommen, eine Diskussion anzufangen, sondern würden nach dem Motto handeln: »Gast unzufrieden? Gut, dann sofort zurück!« Unter den Gästen befinden sich natürlich immer und überall Nörgler, verwöhntes Pack, das bei jedem Gericht auf der Karte nachfragt, was das ist, ungeachtet der Tatsache, dass sie durchaus über gewissekulinarische Kenntnisse verfügen: »Welchen Unterschied gibt es zwischen Tagliatelle und Spaghetti?«, wollen sie wissen. Bei solchen Typen stünde es dem diensthabenden Ober voll und ganz zu, ihnen eins mit der Faust auf die fragenden, verwöhnten Mäuler zu geben, die Knöchel hart auf die obere Zahnreihe, damit sie schön nah an der Zahnwurzel abbrechen. Es müsste gesetzlich geregelt werden, dass das diensttuende Personal sich in solchen Fällen auf Notwehr berufen dürfte. Doch meistens verhielt es sich genau andersherum. Die Leute trauten sich überhaupt nichts. Sie murmelten tausendmal »Verzeihen Sie bitte«, wenn sie nur nach einem Salzstreuer fragten. Dunkelbraune Prinzessbohnen, die nach Lakritz schmeckten, Schmorfleisch, das nur von zähen Sehnen und Knorpel zusammengehalten wurde, Käsebrötchen mit alten Brötchen und grünen Flecken im Käse, der niederländische Restaurantbesucher zermahlte alles schweigsam im Mund und schluckte es hinunter. Und wenn der Ober dann kam und fragte, ob es geschmeckt hätte, fuhren sie sich mit der Zungenspitze über die Fäden und den hängengebliebenen Schimmel zwischen den Zähnen und nickten, ja, es habe geschmeckt.
Wir hatten wieder unsere alte Sitzordnung eingenommen, Babette links neben mir,
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