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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Koch
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Serge ihr gegenüber und Claire mir gegenüber. Ich brauchte nur den Blick von meinem Teller zu heben, um sie anzusehen. Claire schaute zurück und zog die Augenbrauen hoch.
    »Ach, macht doch nichts«, sagte Serge. »Ich esse die Brombeeren gerne einfach mit.« Er strich sich mit der Hand über den Bauch und grinste, zuerst zum Maître d’hôtel und dann zu seiner Frau.
    Eine ganze Sekunde der Stille. Eine Sekunde, in der ich erneut den Blick senkte; mir erschien es am sinnvollsten, wenn ich für einen Moment niemanden ansah, und deshalb blickte ich auf meinen Teller: genauer gesagt auf die drei Käseecken, die dort noch unberührt warteten. Der kleine Finger des Maître d’hôtel hatte bei jeder Käseecke innegehalten. Er hatte genau erklärt, um was für einen Käse es sich handle, aber ich hatte nicht wirklich etwas davon mitbekommen. Der Teller war bestimmt zwei Nummern kleiner als die Teller, auf denen die Vor- und Hauptspeisen serviert worden waren, und dennoch war es auch hier vor allem die Leere, die am meisten Aufmerksamkeit auf sich zog. Die drei Käseecken hatte man, wahrscheinlich um es nach mehr aussehen zu lassen, als es war, mit den Spitzen zueinander hin arrangiert.
    Ich hatte Käse bestellt, weil ich keine süßen Desserts mag, schon als Kind nicht. Doch während ich auf den Teller blickte – vor allem auf die leeren Stellen –, überkam mich plötzlich eine tiefe Erschöpfung, die ich bereits den ganzen Abend über vor mir herzuschieben versucht hatte.
    Am liebsten würde ich jetzt nach Hause gehen, gemeinsam mit Claire, oder vielleicht auch alleine. Ich würde wirklich einiges darum geben, wenn ich mich zu Hause aufs Sofa fallen lassen könnte. In der Horizontalen kann ich besser nachdenken. Ich würde die Ereignisse des Abends noch einmal überdenken können, ich würde einiges Revue passieren lassen, wie man so sagt.
    »Halt du dich doch da raus!«, schnauzte Babette Serge an. »Vielleicht müssen wir Tonio hinzubitten, wenn es offenbar so schwierig ist, ein anderes Dessert zu bestellen.«
    »Tonio« war der Mann mit dem weißen Rollkragenpullover, nahm ich an, der Restaurantinhaber, der sie beim Eingang persönlich in Empfang genommen hatte, weil er so froh war, Leute wie die Lohmans zu seinen Gästen zählen zu dürfen.
    »Das ist nicht nötig«, sagte der Maître d’hôtel schnell. »Ich werde es selbst mit Tonio besprechen, und ich bin mir sicher, dass die Küche Ihnen ein anderes Dessert anbieten kann.«
    »Liebling …«, versuchte Serge zu beschwichtigen, aber offenbar wusste er nicht so schnell, was er sonst noch sagen sollte, denn er grinste den Maître d’hôtel erneut an und hob gleichzeitig die Hände zu einer hilflosen Geste, die Innenseiten nach oben zeigend, was so etwas wie »Frauen? Manchmal versteh ich sie auch nicht mehr« bedeuten sollte.
    »Wieso lachst du eigentlich so dümmlich?«, fragte Babette.
    Serge ließ die Hände sinken, sein Blick hatte etwas Flehendes, als er Babette ansah: »Liebling …«, sagte er noch einmal.
    Auch Michel hatte schon immer eine Abneigung gegen süße Desserts gehabt, überlegte ich; wenn die Ober im Restaurant ihn früher, als er noch klein war, mit einem Eis oder einem Lutscher ködern wollten, schüttelte er immer bestimmt den Kopf. Wir hätten ihm jedes Dessert erlaubt, um das er gebeten hätte, auf die Erziehung konnte es also nicht zurückgeführt werden. Das lag bei uns in den Genen. Ja, einen anderen Ausdruck gab es dafür nicht. Wenn irgendetwas in unseren Genen lag und erblich war, dann bestimmt unsere gemeinsame Abneigung gegenüber süßen Desserts.
    Endlich nahm der Maître d’hôtel das Schälchen vom Tisch. »Ich bin gleich wieder da«, murmelte er und verschwand hurtig.
    »Meine Herren, was für ein Schwachkopf!«, stöhnte Babette; erregt strich sie über das Tischtuch, über die Stelle, auf der soeben noch ihr Dessert gestanden hatte, als wolle sie damit eventuelle Spuren wegwischen, die das Schälchen dort womöglich hinterlassen hatte.
    »Babette, bitte«, flehte Serge, doch inzwischen schwang auch Verärgerung in seiner Stimme mit.
    »Hast du gesehen, wie der geguckt hat?«, sagte Babette, während sie über den Tisch hinweg Claires Hand berührte. »Hast du gesehen, wie schnell er einlenkte, als er den Namen seines Chefs hörte?«
    Claire lachte auch, aber ich wusste: es kam nicht von Herzen.
    »Babette!«, mischte sich Serge ein. »Also bitte, ich finde nicht, dass du das machen kannst. Ich meine, wir kommen doch

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