Angor - Schatten der Vergangenheit (Kriminalroman)
der mittelalterlichen Altstadt von Bern interessierte ihn nicht im Geringsten.
Er bummelte lässig, dabei grübelnd, zum Hoteleingang:
„Mr. Sturdet, ich werde mir große Mühe geben, die letzten Puzzleteile zusammenzufügen, um Ihren Plan umzusetzen.“
Jules war froh, als er sein unscheinbares, aber sauberes Zimmer betrat und seine Füße hochlegen konnte. Er legte seine Brieftasche und den Autoschlüssel auf einen runden Beistelltisch. Ohne sich auszuziehen, zu duschen oder etwas zu essen, lümmelte er sich aufs Bett und schlief sehr schnell ein. Seine innere Uhr weckte ihn pünktlich um sieben am nächsten Morgen. In seinem ganzen Leben hatte er noch keinen Wecker benötigt. Als Erstes öffnete er ein Fenster und sog tief die frische Alpenluft in seine Lungenflügel. Die Ausdünstungen seines Körpers roch er nicht mehr oder verdrängte es einfach. Sein Blick wanderte zu den beeindruckenden Berggipfeln im Rücken des Hotels, ihn berührte diese Aussicht überhaupt nicht. Jules zog sich aus und absolvierte nackt seine morgendlichen Yoga-Übungen. Dann duschte er ausgiebig, putzte seine Zähne und rasierte sich. Nun fühlte er sich wieder energiegeladen. Seinem asketisch, immerzu gedrillten Körper sah man seine sechzig Lebensjahre wahrlich nicht an. Er war fit wie ein halb so alter Mann. Auch in seinem Gesicht zeigte sich nicht sein wahres Alter. Das lag aber nicht an seiner vernünftigen Ernährung, seiner Fitness, auch nicht an seinen vielen Antifaltencremes. Nein, das war einem plastischen Chirurgen geschuldet. Gestrafft und geliftet sah Jules Winthorp wie einige alternde Schauspieler aus. Zu unnatürlich, zu glatt, echt war nur noch seine volle braune Haarpracht. Er fand es toll, einige Frauen auch, das war sein Antrieb.
Jules schaute an seiner Morgenlatte herunter. Stolz lächelnd, auch sein Lieblingsmuskel funktionierte noch bestens. Nun pfeifend entnahm er einen frischen Slip, Strümpfe, ein weißes Hemd und einen dunkelblauen Anzug aus seiner Reisetasche. Seine abgelegte Kleidung schmiss er in einen Mülleimer.
Nachdem er sich fein gemacht und seine wenigen Mitbringsel noch einmal kontrolliert und wieder eingesteckt hatte, schaute Jules sich nochmals im Zimmer um und verließ es.
Er zahlte an der Rezeption gleich seine Rechnung und betrat danach den Frühstücksraum des Hotels. Jules aß ein hartgekochtes Ei und trank eine Tasse schwarzen Kaffee. Eigentlich wie jeden Morgen, das würde sich auch nicht mehr ändern. Er schaute auf seine Armbanduhr und zog leicht seine Augenbrauen hoch. Wo blieb sein Besuch? Es war schon eine Minute nach neun! Indem betrat die erwartete Person den Raum. Jules winkte ihr lächelnd zu und stand währenddessen auf.
»Frau Rezzi? Nehme ich an?«
Sie schüttelten sich beide lächelnd die Hand.
»Ja, die bin ich. Mr. Winthorp, ich freue mich, Sie kennenzulernen und hoffe, Ihnen behilflich sein zu können.«
Cornelia Rezzi war eine ältere Dame mit vergangenem Glanz, der sich immer noch in ihren wunderschönen grünen Augen widerspiegelte. Sie war äußerst gepflegt und klassisch, aber modisch angezogen. Es war ihr anzusehen, dass sie mit ihrem erhabenen Alter und ihrem extrem faltigen Gesicht keine Probleme hatte.
Jules war entsetzt und hatte leichte Schwierigkeiten sich zu konzentrieren und sie anzusehen. Er musste weit nach unten schauen, denn sie reichte ihm kaum bis zur Brust.
»Setzen wir uns doch. Haben Sie schon gefrühstückt ?«
»Ja, Mr. Winthorp. Ich bin es gewohnt, sehr früh aufzustehen. Obwohl ich es schon lange nicht mehr müsste, aber wer kann solche Gewohnheiten schon ablegen, nicht wahr? Ich hätte gern einen schwarzen Tee, ohne alles, das wäre ganz lieb .«
»Selbstverständlich.«
»Jules stand auf und besorgte seinem Gast vom Frühstücksbuffet Gewünschtes und stellte es vor sie hin.«
»Danke, sehr freundlich .«
»Sehr gern. Frau Rezzi, unser gemeinsamer Freund erzählte mir von Ihnen und Ihrer langjährigen Tätigkeit bei der Bollard-Bank. Sie würden alle Abläufe und einfach alles über Schweizer Banken wissen.
Ich benötige ein paar Informationen, das ist alles .«
Jules streckte sich und entnahm einen Umschlag aus seiner Reisetasche, die er auf den nächsten Stuhl neben sich hingelegt hatte, und schob ihn über den Tisch zu ihr rüber. »Dies ist ein kleines Dankeschön für Ihre Mühe .«
»Danke sehr .«
Cornelia strich mit ihren knochigen Fingern zärtlich über das braune Papier.
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