ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
gab es keine Verjährung.
Doch während dieser drei Jahre in North Carolina hatte er zu einem neuen Gleichgewicht gefunden. Er war nicht glücklich – er bezweifelte, er würde je wieder richtig glücklich sein –, aber er hatte sich mit seiner Existenz abgefunden.
Und jetzt, an diesem sonnigen Samstagmorgen, bemerkte er einen der wenigen Lichtpunkte in seinem Leben, der gerade vor ihm über den Bürgersteig spazierte. Ein schlanker blonder Feger, der eine Woge ihr nachsehender Köpfe hinter sich herzog. Lisl. Und sie war allein. Mittlerweile war sie fast gar nicht mehr allein anzutreffen. Er blieb an der Straßenecke stehen und blockierte ihren Weg, als sie die Straße überqueren wollte.
»Hey, Kleines? Wie wär’s mit ’ner Spritztour?«
Er sah, wie ihr Kopf hochfuhr, wie ihre Oberlippe sich zu einer schroffen Bemerkung kräuselte, dann sah er sie lächeln. Was für ein Lächeln. Wie die Sonne, die sich durch tief hängende Wolken bohrt.
»Will! Du hast das Verdeck heruntergeklappt.«
»Ein perfekter Tag dafür. Ich meine es ernst mit der Spritztour. Wie wäre es damit?«
Er hoffte, sie würde Ja sagen. Es schien eine Ewigkeit her, seit sie sich das letzte Mal vernünftig unterhalten hatten.
Sie zögerte einen Moment, dann zuckte sie die Achseln. »Warum nicht? Ich müsste ja blöd sein, wenn ich Nein sagen würde.«
Er beugte sich vor und stieß die Tür für sie auf.
»Ist lange her, Lise.«
»Zu lange«, sagte sie, rutschte in den Wagen und schlug die Tür zu.
»Wohin möchtest du?«
»Ach, irgendwohin. Wie wäre es mit dem Highway? Ich möchte schnell fahren.«
Bill fuhr aus der Stadt heraus und überlegte, wie verrückt das Leben doch war. Hier saß er, ein alternder, schäbiger, bärtiger, exkommunizierter Priester mit einem Pferdeschwanz in einem Cabrio unter einem wolkenlosen Himmel neben einer schönen Blondine mit windzerzausten Haaren. Er kam sich vor wie der Schulabbrecher, der gerade die Ballkönigin aufgegabelt hatte.
Vielleicht war Glück doch kein unmöglicher Traum.
»Weswegen grinst du so?«, fragte Lisl.
»Über nichts«, sagte er. »Über alles.«
Als er jemanden auf einem Fahrrad überholte, sagte Lisl: »Vorsicht, Spinner.«
Bill sah sie scharf an. Er hatte eine solche Bemerkung nicht erwartet. Obwohl Bill seinen Namen nicht kannte, war der Junge in der Stadt eine vertraute Erscheinung. Er hatte nie mit ihm gesprochen, aber an seinem Erscheinungsbild und der Verbissenheit, mit der er in die Pedale trat, konnte man sehen, dass er geistig zurückgeblieben war. Bill konnte sich vorstellen, wie seine Mutter ihm seine Butterbrote schmierte, sie in dem abgewetzten kleinen Rucksack auf seinem Rücken verstaute und ihn dann jeden Morgen losschickte. Wahrscheinlich arbeitete er in den Beschützenden Werkstätten am anderen Ende der Stadt.
»Bist du heute mit dem falschen Fuß aufgestanden?«
»Überhaupt nicht«, murmelte Lisl, als sie an dem Jungen vorbeifuhren. »Mutanten wie den da sollte man gar nicht auf die Straße lassen.«
»Du machst Witze, oder? Ich kenne den Jungen nicht, aber ich bin stolz auf ihn. Er zieht sich selbst an, fährt zur Arbeit und macht irgendeine Hilfsarbeit, die seine Fähigkeiten wahrscheinlich aufs Äußerste strapaziert, und trotzdem ist er hier jeden Tag mit seinem Fahrrad unterwegs, bei Wind und Wetter, und fährt zur Arbeit und wieder zurück. Das kannst du ihm nicht wegnehmen. Das ist alles, was er hat.«
»Richtig. Bis er einen Anfall bekommt und von einem Auto angefahren wird und dann verklagt seine Familie den Fahrer bis auf den letzten Penny.«
Bill streckte seine Hand aus und fühlte ihre Stirn. »Geht es dir gut? Kriegst du Fieber?«
Lisl lachte. »Mir geht es gut. Vergiss es.«
Bill versuchte, genau das zu tun, während sie die Route 40 überquerten und nach Norden fuhren, ganz gemütlich, und dabei darüber plauderten, was sie gerade taten, was sie zuletzt gelesen hatten, aber bei allem, was sie sagte, entdeckte er subtile Veränderungen. Diese Lisl war nicht die, die er die letzten drei Jahre gekannt hatte. Sie schien in den Wochen seit der Weihnachtsfeier härter geworden zu sein, als hätte sie einen Panzer um sich herum aufgebaut. Und das einzige Thema, das sie noch kannte, war Rafe Losmara.
»Hast du noch irgendwas von der Polizei über den merkwürdigen Telefonanruf gehört?«, fragte er, zum einen aus wirklichem Interesse, aber auch, um das Gespräch von Rafe wegzulenken.
»Nein. Kein Wort. Und es ist mir auch egal.
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