ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
Fahrbahn schlingerte. Durch den rieselnden Schnee hindurch hatte er, als er das andere Ende der Brücke erreichte, eine Gruppe blinkender Alarmbalken gesehen, die sich hinter ihm unten an der Staten-Island-Auffahrt trafen.
Wenn sie ihre Suche auf Staten Island beschränkten, war er davongekommen. Aber darauf konnte er sich nicht verlassen. Also sollte er am besten jetzt noch einen weiteren Staat zwischen sich und New York bringen. Er bemerkte auf seinem Mautticket, dass Ausfahrt Sechs zum Pennsylvania Turnpike führte. Die würde er nehmen. Er würde mindestens hundert Kilometer nach Pennsylvania hineinfahren und den Wagen dann in einem Einkaufszentrum stehen lassen. Danach würde er eine Busfahrkarte kaufen und nach Philadelphia zurückfahren. Von da über Amtrak nach Süden, bis nach Florida. Und danach, wer weiß? Vielleicht fand er eine Mitfahrgelegenheit auf einem Fischerboot zu den Bahamas. Die waren zwar nicht mal hundertfünfzig Kilometer von Florida entfernt, aber das war britisches Hoheitsgebiet, faktisch ein anderes Land.
Er war so müde. Er versuchte, sich seine Zukunft vorzustellen, aber da war nichts. Und er konnte nicht zurückblicken. Gott, nein – auf keinen Fall. Er musste vergessen – Danny, Amerika, den Gott, dem er vertraut hatte, Bill Ryan.
Ja, er musste Bill Ryan vergessen. Bill Ryan war tot, zusammen mit allem, an das er je geglaubt hatte.
Er musste irgendwo hin, wo ihn niemand kannte, einen Ort, an dem er sich verlieren konnte, seine Erinnerungen, seinen Verstand.
Einen Ort ohne Telefone.
Die Brust wurde ihm schwer. Er war jetzt allein. Ganz allein. Niemand, an den er sich wenden konnte. Alles, was er geliebt hatte oder was ihm etwas bedeutet hatte, war tot oder ihm verschlossen. Seine Familie war tot; der Familiensitz ein leeres Grundstück mit einem verkohlten Fleck in der Mitte; er konnte sich nicht bei St. Francis zeigen; die Kirche und der Orden würden sich von ihm lossagen und ihn der Polizei übergeben, wenn er sich hilfesuchend an sie wandte.
Und Danny war tot … Auch der arme, liebe Danny war jetzt tot.
Oder etwa nicht?
Natürlich war er das. Außer Gefahr und in Frieden, bedeckt von anderthalb Metern gefrorener, schneebedeckter Erde. Wie könnte es anders sein?
Schaudernd schüttelte er die entsetzliche Möglichkeit von sich, gab Gas und ließ sie hinter sich. Aber ihr Geist folgte ihm nach Süden durch die weiße Vorhölle des Schneesturms.
Teil 3: Jetzt
Januar
XIX
North Carolina
Samstagmorgen, und es war Cabrio-Wetter.
Bill genoss die Wärme der Sonne auf den Schultern und im Nacken, als er aus der Parklücke an der Conway Street ausscherte. Es war warm für Ende Januar, selbst für North- Carolina-Verhältnisse. Er hatte gerade eine CD der Notorious Byrd Brothers zum Schnäppchenpreis erworben und er konnte es gar nicht erwarten sie abzuspielen. Wie lange war es schon her, dass er das letzte Mal ›Tribal Gathering‹ oder ›Dolphin Smile‹ gehört hatte, Songs, die man selten im Radio hörte und hier unten schon gar nicht.
Er drückte auf den Sendersuchlauf seines Autoradios – eine der wenigen nicht originalen Errungenschaften des alten Impala – und hielt an, als er jemanden eine klagende Version von ›Yellow Bird‹ im Country-Stil singen hörte. Eine Welle der Übelkeit überkam ihn, als er in Gedanken auf die Bahamas zurückgeschleudert wurde, zurück in die zwei ausradierten Jahre, die er auf der kleinen Inselgruppe nahe dem Wendekreis des Krebses verbracht hatte.
Er war am späten Abend des Neujahrstages mit dem Zug in West Palm angekommen. Ganz früh am nächsten Morgen hatte er sich einen sechs Meter langen Außenborder gemietet, zusätzliche Benzinkanister eingeladen und dann war er einem der Touristenboote in Richtung Bahamas gefolgt. Ein paar hundert Meter vor Grand Bahama ging ihm das Benzin aus und er musste das letzte Stück schwimmen. Als er in West End an Land kam, saß er eine Weile am Strand, außerstande, sich zu rühren. Er war jetzt auf britischem Boden, und damit zählte auch sein Heimatland zu den Dingen, die er hinter sich gelassen hatte.
Abgesehen von seinem Leben hatte er jetzt nur noch eines zu verlieren. Er schrieb William Ryan, S. J. in den nassen Sand, drehte sich um und ging davon.
Als er in Freeport ankam, waren seine Kleider getrocknet.
Er erlebte den größten Teil des folgenden Jahres durch eine Wolke von billigem Rum und Drogen. Warum auch nicht? Was kümmerte es ihn? Er vertraute nicht mehr auf Gott, jedenfalls
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