ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
Carol wurde klar, dass er es wirklich nicht begriff.
»Vergiss es. Wo gehst du hin?«
»Ich werde eine alte Rechnung begleichen.«
»Mit diesem rothaarigen Mann, nach dem du immer suchst?«
Zum ersten Mal zeigte sein Gesicht eine Gefühlsregung.
»Ich habe dir gesagt, du sollst ihn nie erwähnen!« Dann wurde sein Gesicht weicher und zeigte ein Lächeln, bei dem es ihr kalt den Rücken hinunter lief. »Nein. Zunächst werde ich eine alte Bekanntschaft erneuern.«
Er ging. Keine Berührung, kein Lächeln, kein Winken zum Abschied, nicht einmal ein Achselzucken. Er drehte sich einfach um und ging zu seinem wartenden Sportwagen.
Als ihr Jimmy davonfuhr, begann Carol zu weinen. Und sie hasste sich dafür.
XII
New York
1.
Wieder war es Silvester.
Vor dem St.-Ann’s-Friedhof in Bayside sah Mr. Veilleur dem roten Glühen der entschwindenden Taxirücklichter in der Dunkelheit hinterher, dann drehte er sich um und ging auf die Friedhofsmauer zu. Das Taxi würde ihn in einer Stunde wieder abholen. Er hatte dem Fahrer eine Hälfe eines Hundertdollarscheins als Trinkgeld gegeben und ihm versprochen, er würde die andere Hälfte bekommen, wenn er ihn abholte. Der kam sicher wieder.
Er fand einen großen Granitklotz, der in der Nähe der Mauer aus dem Boden ragte. Er ließ sich darauf nieder. Die Dezemberkälte der gefrorenen Erde breitete sich an seinem Hintern aus.
»Ich bin gekommen, um eine Weile bei dir zu sitzen«, sprach er zu der Mauer.
Keine Antwort kam aus dem ungekennzeichneten, ruhelosen Grab, das direkt dahinter lag.
Um diese Zeit war der Friedhof für Besucher gesperrt, es war schließlich Nacht und Silvester, also blieb er auf dieser Seite der Mauer. Magda würde ihn heute Abend nicht vermissen. Sie wusste nicht einmal, dass es ein Feiertag war. Er zog eine Thermoskanne mit heißem Kaffee und Cognac heraus und goss sich etwas in die Kappe. Er nippte daran und spürte, wie sich die Kälte verzog.
»Das ist der fünfte Jahrestag, seit du hier begraben liegst. Ich bin nicht gekommen, um das zu feiern, sondern nur, um des Termins zu gedenken. Um hier zu sitzen und über dich zu wachen. Jemand sollte das tun.«
Er trank noch etwas von dem Kaffee und dachte über die Zukunft nach. Die nahe Zukunft, denn er wusste, viel Zukunft gab es nicht mehr.
Der Widersacher wurde beständig mächtiger, der Einfluss der Andersheit wurde immer größer. Veilleur spürte, wie sich die Sturmwolken zusammenbrauten, wie die Gewitterfronten des Bösen am Horizont dräuten und näher kamen. Und der Brennpunkt einiger dieser Kräfte schien genau hier zu sein, auf der anderen Seite der Friedhofsmauer, in diesem namenlosen Grab. Irgendetwas würde hier passieren. Sehr bald.
»Welche Rolle spielst du bei alledem?«, fragte er den ruhelosen Besitzer des Grabes.
Keine Antwort. Aber Veilleur wusste, er würde es bald herausfinden. Schneller als es ihm lieb war.
Er schlürfte seinen Kaffee und hielt weiter seine einsame Wache.
North Carolina
2.
Wieder war es Silvester.
Will saß allein in seinem zugigen Wohnzimmer und verfolgte im Fernsehen die tobende Menschenmenge auf dem Times Square. Gott, wie er diese Nacht hasste.
Vor fünf Jahren … auf den Tag genau vor fünf Jahren hatte er die Untat begangen, die Tat, die eine unverrückbare Trennlinie zwischen ihm und dem Rest der Menschheit gezogen hatte.
Dieses Jahr würde es noch schlimmer sein als sonst, weil da der Anruf war.
Es war so lange her, seit er ihn gehört hatte. Jahrelang hatte er es geschafft, ihm zu entgehen. Und dann Lisls Feier. Es war eine Dummheit gewesen, dorthin zu gehen, aber er hatte gedacht, er würde damit durchkommen. Er hatte das Schicksal herausgefordert. Jemand, der selbst telefonieren wollte, hatte das Telefon wohl wieder eingestöpselt.
Und er hatte die Stimme gehört. Durch das ganze Zimmer hinweg hatte er die Stimme des armen Jungen gehört.
Will stand auf und schaltete den Fernseher ab. Wenn er das grinsende Gesicht des Moderators noch länger ertragen müsste, würde er sonst noch einen Stuhl in den Bildschirm werfen. All diese Leute, die sich auf dem Times Square drängten und darauf warteten, wie die Idioten herumzuhüpfen und den Beginn eines neuen Jahres zu feiern.
Ein neues Jahr. Sicher. Für ihn war es der Beginn eines weiteren Jahres auf der Flucht. Tag eins von Jahr sechs.
Aber dieses neue Jahr würde anders werden. Dieses Jahr würde er die Kraft finden, zurückzugehen, zu versuchen, an sein früheres Leben anzuknüpfen. Und
Weitere Kostenlose Bücher