ANGRIFF - Fantastischer Thriller (German Edition)
der beste Weg dorthin bestand darin, das Jahr im Gebet zu beginnen.
Er zog sein altes Andachtsbuch aus der Gesäßtasche – das Buch, das er seit September vor Lisl versteckt hielt – und begann die morgige Andacht schon ein paar Stunden früher zu lesen.
Doch heute schienen ihm die Gebete sogar noch bedeutungsloser als in den letzten Wochen, seit er sie wieder aufgenommen hatte. Für gewöhnlich konnte er sich darauf verlassen, dass der Rhythmus der vertrauten Phrasen ihm eine kurzfristige Entspannung von den Schrecken der Vergangenheit verschaffte.
Aber nicht heute.
Die Gesichter, Stimmen, Szenarien, Geräusche – sie klatschten wie Regentropfen auf ihn ein, zuerst nur vereinzelt, dann in einem stetigen Tropfen, schließlich wurden sie zu einem Wolkenbruch, der den Raum überflutete. Er kämpfte gegen die Strömung an, aber sie war zu stark. Trotz seiner verzweifelten Gegenwehr wurde er in die Vergangenheit gespült.
Teil 2: Damals
XIII
Queens, New York
1.
Es war gegen Ende des Winters in diesem Jahr, dass plötzlich alles aus dem Ruder lief. Im März, als der Frühling nur noch wenige Wochen entfernt war.
Damals hatten die Leute ihn nicht Will genannt. Seine Freunde und seine Familie nannten ihn Bill. Der Rest der Welt nannte ihn Pater. Pater Ryan. Pastor William Ryan, S. J.
»Ich hab dich«, sagte Nicky von der anderen Seite des Schachbretts.
Bill streckte sich in seinem marineblauen Sweatshirt und ermahnte sich zum tausendsten Mal, ihn in Gedanken nicht Nicky zu nennen. Er war kein kleiner Junge mehr. Er war ein erwachsener Mann – sogar ein Doktor der Physik. Und er hatte auch einen Nachnamen. Justin und Florence Quinn hatten ihn 1970 adoptiert und er trug mit Stolz ihren Namen. Die Leute nannten ihn Doktor Quinn, oder Nicholas, oder Dr. Nick. Niemand nannte ihn Nicky.
Nicky … Bill war stolz auf ihn, so stolz, so stolz, als wäre Nick sein eigener Sohn. Er hatte die Aufnahmetests der Unis mit Bravour gemeistert und ein Stipendium an der Columbia Universität bekommen, wo er innerhalb von drei Jahren ein Physikstudium abschloss. Dann hatte er im Eiltempo das Doktorandenprogramm absolviert und die Fakultät mit seiner Doktorarbeit über Teilchenphysik begeistert. Nick war brillant und das wusste er. Er hatte es immer gewusst. Aber je reifer er geworden war, desto weniger kokettierte er damit. Die Unreinheiten seiner Haut waren zurückgegangen – wenigstens zu einem erheblichen Teil – und sein langes, widerspenstiges Haar verdeckte die missgebildeten Teile seines Schädels. Und er trug Kontaktlinsen. Die Gewöhnung daran hatte ihm am meisten zu schaffen gemacht: Nicky ohne Brille.
»Matt?«, fragte Bill. »So schnell? Wirklich?«
»Wirklich, Bill, wirklich.«
Auch das ein Zeichen, dass er erwachsen geworden war: Er verzichtete darauf, ihn Pater Bill zu nennen.
Bill studierte das Brett. Nick hatte ihm beide Türme und beide Läufer vorgegeben und trotzdem verlor er. Er sah wirklich keine Möglichkeit, seinen König aus der Falle zu befreien, in die Nick ihn gelockt hatte. Er hatte verloren.
Bill stieß seinen König um.
»Ich weiß nicht, warum du überhaupt noch mit mir spielst. Ich bin doch kein Gegner für dich.«
»Es geht nicht um das Spiel. Es geht um die Gesellschaft. Es geht um das Gespräch. Glaub mir, es geht nicht um Schach.«
Bill wusste, gesellschaftlich war Nick immer noch ein Außenseiter. Vor allem, was Frauen anging. Und bis er eine Frau gefunden hatte – oder eine Frau ihn gefunden hatte –, würden die traditionellen Samstagnachmittags-Schachspiele hier in St. F’s wahrscheinlich endlos weitergehen.
»Aber ich scheine bei dem Spiel immer schlechter zu werden statt besser.«
Nick schüttelte den Kopf. »Nicht schlechter. Nur vorhersehbarer. Du tappst jedes Mal wieder in die gleiche Falle.«
Bill gefiel der Gedanke nicht, berechenbar zu sein. Er wusste, sein größter Fehler beim Schach war seine Ungeduld. Er neigte zu impulsivem Spiel aus dem Bauch heraus. Aber so war er nun einmal.
»Ich werde anfangen, Schachtheorie zu lernen, Nick. Besser noch, ich besorge mir ein Schachprogramm für den Computer. Dieser alte Dell, den du mir gegeben hast, wird dein Untergang sein. Er wird mir beibringen, wie ich dich auf dem Brett fertig machen kann.«
Nick schien von der Drohung nicht sonderlich beeindruckt.
»Wo wir gerade von Computern reden, hast du dir diese Webseiten und Foren angesehen, zu denen ich dir die Links geschickt habe?«
Bill nickte. »Ich glaube, ich
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