Angst in der 9a
Polizeimeister Kaltenberger beugte sich aus dem Fenster.
»Du hast ja dein Rad. Ist Seibold weich geworden?«
»Von wegen!«, erwiderte Tarzan und berichtete.
»Ziemlich offensichtlich«, meinte Kaltenberger. »Aber er hat den Kopf aus der Schlinge gezogen. Ihm jetzt noch was nachzuweisen, wird schwierig sein. Du bist der einzige Zeuge. Da steht Behauptung gegen Behauptung. Ich glaube dir. Aber wie das Gericht Seibolds Aussage bewerten würde, weiß man vorher nie. Egal, fragen wir ihn!«
Er stieg aus.
Tarzan schob sein Rad. Vorläufig würde er es nicht mehr unbeaufsichtigt lassen.
Otto Seibold sen. befand sich noch immer auf dem Hof und polierte die verchromten Teile seines Wagens.
Er blickte auf, als sich die beiden näherten, verzog aber keine Miene.
Kaltenberger sagte: »Sie wissen, worum es geht. Peter Carsten beschuldigt Ihren Sohn, dieses Rennrad, das Carsten gehört, gestohlen zu haben. Es hätte eben noch in der Garage gestanden, wie Carsten durch das rückwärtige Fenster sah. Sie hätten sich geweigert, es ihm auszuhändigen. Als mich der Junge telefonisch informiert hatte und von der Telefonzelle zurückkam, fand er sein Rad in der Landschaftsstraße – an den Hydranten gelehnt. Wollen Sie sich dazu äußern?«
Seibold stemmte die Fäuste in die Hüften. »Er war hier, der Bengel. Stimmt. Er hat irgendwelches dummes Zeug von einem Rad und von Diebstahl gefaselt. Stimmt auch. Dann habe ich ihn weggejagt. In der Garage steht ein Rennrad. Aber das gehört mir. Schon seit zehn Jahren. Davon hätte er sich überzeugen können. Die Garage war offen. Da brauchte er gar nicht durchs Rückfenster zu glotzen, der verdammte Bengel. Unerhört, anständigen Menschen so was anzuhängen.«
»Donnerwetter!«, sagte Tarzan. »Sie sind aber rotiert. Erst mein Rad zum Hydranten bringen, dann das eigene aus dem Keller holen, in die Garage stellen – das muss Stress gewesen sein. Sie schwitzen ja jetzt noch.«
»Verdammter Lümmel!«, schimpfte Seibold. »Gleich haue ich dir eine rein!«
»Halten wir uns an das, Peter«, sagte Kaltenberger, »was sich beweisen lässt.«
Sie gingen vor die Garage. Seibold klappte das Tor hoch.
An der Rückwand lehnte tatsächlich ein Rennrad.Es war alt. Die Bleche hatten Rost angesetzt. An der Kette klebte verhärteter Lehm. Etliche Speichen fehlten. Aus dem Sattel hingen Fetzen, als hätte jemand mit einem Messer seine Wut daran ausgelassen.
Dieses Vehikel konnte man allenfalls noch schieben. Zum Fahren war es nicht mehr geeignet.
»Damit machen Sie wohl jeden Abend eine Spritztour«, sagte Tarzan ironisch. »Deshalb steht es so griffbereit in der ohnehin engen Garage.«
»Ich kann mein Rad hinstellen, wo ich will«, blaffte Seibold.
»Das war’s«, sagte der Polizeimeister kühl.
Er tippte flüchtig an den Rand seiner Mütze, wandte sich ab und ging mit Tarzan zur Straße.
Der Junge presste die Lippen aufeinander. Er war so wütend, dass ihm das Blut in den Ohren toste.
»Pech!«, sagte Kaltenberger. »Was du behauptest, stimmt. Aber wir können es nicht beweisen.«
»Es ist ungerecht, dass er mit dieser Lüge davonkommt.«
»Leider, mein Junge. Aber so ist nun mal das Leben. Vielen, die Strafe verdienen, geschieht gar nichts. Weil sie durchtrieben sind und dem Gesetz durch die Maschen schlüpfen: kleine und große Gauner. Allerdings – meistens sind es die großen Gauner, die nicht erwischt werden. Dass ein kleiner wie Seibold wegen eines Fahrraddiebstahls ungeschoren bleibt, ist selten.«
»Wer sagt denn, dass er ein kleiner Gauner ist«, entgegnete Tarzan. »Vielleicht hat er’s faustdick hinter den Ohren.«
Kaltenberger lachte. »Ich verstehe deinen Grimm. Aber tröste dich! Dein Rad hast du wieder. Das ist doch die Hauptsache.«
Tarzan dankte dem Polizeimeister. Immerhin hatte der getan, was er konnte.
Der Streifenwagen fuhr ab.
Tarzan sah auf die Uhr.
Die nachmittägliche Arbeitsstunde im Internat hatte längst begonnen. Unter Aufsicht der Lehrer wurden die Hausaufgaben erledigt.
Heute, dachte Tarzan, bin ich mal nicht dabei. Sei’s drum! Wenn ein Diebstahl kein Grund ist, was denn dann? Diesem King muss ich eins draufgeben. Sonst könnte ich heute Nacht nicht schlafen.
Ohne Hast radelte er zur Fattoria.
6. In schlechter Gesellschaft
Sie lag an einem verkehrsreichen Platz. Aus Mangel an Parkmöglichkeiten hatten einige Gäste ihre Fahrzeuge auf den Gehsteig gestellt. Allerdings – vor der Fattoria war er sehr breit. Ein Flugzeug hätte Platz
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