Angst ist dein Tod - Ephron, H: Angst ist dein Tod - Come and Find Me
er holte tief Luft. »Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Ich weiß nur, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wer ich war, als ich im Krankenhaus aufgewacht bin. Anscheinend war ich eines Tages in einem kleinen Dorf aufgetaucht und zwar in ziemlich schlimmer Verfassung. Ich muss tagelang umhergeirrt sein. Keine Ahnung, wie ich das überlebt habe und wie ich dort hingekommen bin. Sicher ist nur, dass ich es geschafft habe. Sie haben mich ins nächste Krankenhaus geflogen, und dort hieß es, es sei ein Wunder, dass ich überhaupt noch ganz sei.«
Er spreizte die Finger und zeigte ihr die vernarbten Kuppen.
»Erfrierungen«, erklärte er. »An den Zehen auch. Und an der Nasenspitze. Die haben sie wieder hingekriegt, worüber ich sehr froh war. Es hätte viel schlimmer kommen können. Ich hatte nur meinen Führerschein bei mir. Aber Wasser war unter die Laminierung geraten, und Name, Anschrift – fast alles Gedruckte auf dem Ausweis war nicht mehr zu entziffern. Ich war wochenlang im Krankenhaus, anschließend mehrere Monate in der Reha.« Er sah auf sie hinab. »Dann habe ich langsam wieder laufen gelernt, wusste aber immer noch nicht, wer ich war und wo ich gewesen war. Ich habe mir immer wieder den Führerschein vorgenommen, ihn gegen das Licht gehalten, ihn immer wieder genau angesehen, um vielleicht doch den Namen zu entziffern. Einige Buchstaben konnte ich nur erraten. Dann habe ich alle denkbaren Varianten gegoogelt, bis ich schließlich auf meine eigene Todesanzeige stieß. Ich war schon seit sechs Monaten tot. Das war alles so unwirklich. Schließlich habe ich versucht, etwas über mich herauszufinden, bis ich auf das alberne Foto von uns dreien in der Halloween-Verkleidung gestoßen bin. Erinnerst du dich?«
Natürlich erinnerte sich Diana. Damals wollten sie erst als die drei Musketiere gehen. Schließlich steckten sie im Outfit der Drei Stooges . Daniel hatte sich als Larry eine fleischfarbene Badekappe aufgesetzt, unter deren Rändern an den Seiten und im Nacken gerupfte Stahlwolle hervorquoll. Jake hatte sich den Kopf kahl rasieren lassen, sodass er als Curly gehen konnte. Diana war Moe und trug eine schwarze Perücke mit einem Pony, der ihr fast bis zur Nase reichte. Sie hatte den mürrischen Blick einstudiert, mit energisch vorgerecktem Kinn. In dieser Zeit sah sie sich auch zum ersten Mal genauer die Filme der Drei Stooges an. Auch wenn sie Daniel und Jake in ihrer Begeisterung nie so ganz folgen mochte, hatte sie doch begriffen, dass die drei, die sich dort ständig stritten und prügelten, im Grunde eine verschworene Gemeinschaft waren.
Daniel schob Diana von seinem Schoß und half ihr auf. Er ließ sich auf einen Schreibtischsessel fallen. »Wir hatten doch eine wunderbare Zeit, oder?« Er lehnte sich in seinem Stuhl weit nach hinten, verschränkte die Arme vor der Brust und grinste sie an. Die Vertrautheit dieser Pose verschlug ihr den Atem. »Und das Foto von uns, auf dem wir so herumblödeln – genau das war der Auslöser. Als ich das gesehen habe, kam die Erinnerung Stück für Stück zurück. Und weißt du, woran ich mich als Erstes erinnerte? Noch vor meinen Eltern und meiner Heimatstadt? Als Erstes fiel mir Toro ein, der schwarze Labrador, den wir hatten, als ich klein war. Das mit dem Gedächtnis ist schon eine verrückte Sache. Mir fiel immer mehr ein, aber es dauerte noch Monate, bis ich mir Gedanken über meine Zukunft machen konnte. Und ganz allmählich erinnerte ich mich auch daran, was passiert war.«
Er redete und redete, aber Diana hörte kaum noch zu. Pick, pick … das Geräusch, das sie gehört hatte, als sie und Jake am vereisten Rand auf Daniel gewartet hatten. Die Kletterseile lagen neben ihnen aufgerollt am Boden. Sie hatte versucht, über den Rand zu sehen, aber der eisige Wind schnappte nach ihr wie ein wildes Tier. Sie hatte sich die Sturmhaube wieder aufgesetzt, kauerte auf dem Boden und konzentrierte sich auf die Geräusche des Pickels und der Steigeisen, die Daniel ins Eis rammte, erst einen, dann den anderen. Sie hatte geradezu vor sich gesehen, wie er sich hinaufkämpfte.
Dann war da dieser Augenblick absoluter Stille. Sie hatte sich gesagt: Er hat die zweite Eisschraube erreicht, während sie auf das Geräusch seiner Axt wartete und den befreienden Ruf, dass er weiterklettern würde. Stattdessen vernahm sie einen Schrei und einen ernüchternden, dumpfen Schlag.
Diana hatte sich vorsichtig an die Kante des Vorsprungs herangewagt, um zu sehen, was
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