Angst
nicht mehr gebraucht werden. Man benötigt nur noch einen Bildschirm, den man in der Hand halten kann.
Aber der entscheidende Punkt ist: Menschen lesen immer noch mit der gleichen Geschwindigkeit wie Aristoteles. Der durchschnittliche amerikanische College-Student liest vierhundertfünfzig Wörter pro Minute. Die beson ders Intelligenten schaffen achthundert. Das sind etwa zwei Seiten pro Minute. IBM hat erst im letzten Jahr bekanntgegeben, dass es für die US -Regierung einen Computer entwickelt, der 20 000 Billionen Berechnungen pro Sekunde erledigen kann. Für den Umfang an Informationen, den wir Menschen verarbeiten können, gibt es eine physische Grenze. Wir als Spezies haben das Ende der Fahnenstange erreicht. Für den Umfang an Informationen hingegen, den ein Computer verarbeiten kann, gibt es keine Grenze.
Die Sprache – also die Ersetzung von Objekten durch Symbole – hat für uns Menschen einen weiteren großen Nachteil. Der griechische Philosoph Epiktet hat das schon vor zweitausend Jahren erkannt, als er schrieb: ›Nicht die Dinge selbst verstören und beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen und Fantasien über die Dinge.‹ Die Sprache entfesselte die Kraft der Fantasie und damit auch Gerüchte, Panik, Angst. Algorithmen haben keine Fantasie. Sie geraten nicht in Panik. Deshalb eignen sie sich perfekt für den Handel an den Finanzmärkten.
Wir haben mit unserer neuen Generation von VIXAL -Algorithmen versucht, die Komponente des Kurses, die sich allein aus vorhersehbaren menschlichen Verhaltens mustern ableiten lässt, zu isolieren, zu messen und in unsere Marktberechnungen einzubeziehen. Warum, zum Beispiel, fällt ein Aktienkurs, der in Erwartung positiver Zahlen steigt, unweigerlich unter seinen alten Kurs, wenn die Zahlen schlechter als erwartet ausfallen? Warum hal ten Händler manchmal störrisch an einer bestimmten Aktie fest, auch wenn sie an Wert verliert und die Verluste immer größer werden, während sie ein andermal eine völlig makellose Aktie verkaufen, anstatt sie zu halten, nur weil die Kurse allgemein fallen? Der Algorithmus, der mit seiner Strategie diese Mysterien auflösen kann, wird einen gewaltigen Wettbewerbsvorteil haben. Wir glauben, dass wir nun genügend Datenmaterial zur Verfügung haben, um diese Anomalien vorhersagen und von ihnen profitieren zu können.«
Ezra Klein, der immer schneller auf seinem Stuhl hin und her gewippt war, konnte sich nicht länger zurückhalten. »Das ist verhaltensorientierte Finanzierungslehre, nichts weiter!«, platzte es aus ihm heraus. Die beiden Worte klangen aus seinem Mund wie Ketzerei. »Zugegeben, die Efficient-Markets-Hypothese ist erledigt, aber wie filtern Sie die Nebengeräusche heraus, damit die Verhaltenstheorie in der Praxis funktioniert?«
»Wenn man aus der Bewertung einer Aktie die Schwankung herausrechnet, der sie im Laufe der Zeit unterliegt, dann bleibt nur die Verhaltenswirkung übrig, wenn überhaupt.«
»Ja, aber wie finden Sie heraus, was die Verhaltenswirkung hervorgerufen hat? Da können Sie gleich die Geschichte des gesamten verdammten Universums untersuchen.«
»Ezra, ich stimme Ihnen ja zu«, sagte Hoffmann gelassen. »Wir können nicht für die letzten zwanzig Jahre jeden Aspekt menschlichen Verhaltens an den Märkten und dessen wahrscheinlichen Auslöser analysieren, egal, wie viel digitales Datenmaterial wir jetzt zur Verfügung haben und wie schnell unsere Hardware sie abfragen kann. Wir wussten von Anfang an, dass wir den Fokus würden eingrenzen müssen. Die Lösung, die wir gefunden haben, ist die, dass wir uns auf eine einzige bestimmte Emotion beschränken, über die wir substanzielles Material haben.«
»Und die wäre?«
»Die Angst.«
Unruhe machte sich im Raum breit. Typisch Klein, dachte Hoffmann, dass er die Hypothese effizienter Märkte erwähnt hatte. Obwohl Hoffmann selbst sich bemüht hatte, ohne Fachkauderwelsch auszukommen, war ihm doch die wachsende Verwirrung unter seinen Zuhörern aufgefallen. Aber jetzt hatte er ihre Aufmerksamkeit, keine Frage. Er fuhr fort. »Historisch betrachtet, ist Angst die stärkste Emotion in der Wirtschaft. Erinnern Sie sich an Franklin D. Roosevelt in der Großen Depression? Von ihm stammt das berühmteste Zitat der Finanzgeschichte: ›Das Einzige, wovor wir Angst haben müssen, ist die Angst selbst.‹ Angst ist wahrscheinlich die stärkte menschliche Emotion, Punkt. Wer ist schon jemals morgens um vier aufgewacht, weil er überglücklich war?
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