Angst
faszinierten sie am meisten – die Klarheit und das Rätselhafte, das Unpersönliche und das Intime, das Exemplarische und dennoch absolut Einzigartige.
Als sie am Morgen beobachtet hatte, wie Alex in die CT -Röhre glitt, hatte sie den Wunsch verspürt, von ihm ein Porträt zu machen. Sie fragte sich, ob ihr die Ärzte seine Bilder geben würden und ob er damit einverstanden wäre, dass sie sie benutzte.
Behutsam wickelte sie die letzte Glasplatte und den Sockel ein und versiegelte dann den Pappkarton mit dickem, braunem Klebeband. Von all ihren Arbeiten gerade diese für die Ausstellung auszuwählen war eine schmerzvolle Entscheidung gewesen: Wenn jemand sie kaufte, dann würde sie sie wahrscheinlich nie wiedersehen. Und doch war ihr die Auswahl gerade dieser Arbeit wichtig gewesen. Das war überhaupt der Sinn und Zweck gewesen: sie zu erschaffen, um ihr eine eigene Existenz zu geben, um sie hinaus in die Welt ziehen zu lassen.
Sie trug den Karton hinaus in den Gang, als wäre er eine Opfergabe. An den Türgriffen und Holzverkleidungen waren noch Spuren des blauweißen Pulvers zu sehen, das die Kriminaltechniker bei ihrer Suche nach Fingerabdrücken hinterlassen hatten. Das Blut im Hausflur war aufgewischt worden. Die Stelle auf dem Boden, wo sie Alex gefunden hatte, war noch feucht. Vorsichtig ging sie darum herum. Dann hörte sie ein Geräusch, das aus dem Arbeitszimmer kam. Sie bekam eine Gänsehaut, und im gleichen Augenblick tauchte in der Tür die massige Gestalt eines Mannes auf. Sie stieß einen Schrei aus und hätte fast den Karton fallen lassen.
Dann erkannte sie ihn. Es war Genoud, der Mann vom Sicherheitsdienst. Als sie eingezogen waren, hatte er ihr erklärt, wie man die Alarmanlage bediente. Ein anderer Mann war bei ihm, ein stämmiger Bursche, der wie ein Ringer aussah.
»Entschuldigen Sie, Madame Hoffmann, wir wollten Sie nicht erschrecken.« Genoud gab sich ernst und professionell. Er stellte ihr seinen Begleiter vor. »Das ist Camille. Ihr Mann möchte, dass er ein Auge auf Sie hat.«
»Ich brauche keinen Aufpasser«, sagte Gabrielle. Aber sie war zu aufgewühlt, um sich ernsthaft zu wehren. Der Bodyguard nahm ihr den Karton ab und trug ihn hinaus zu dem wartenden Mercedes. Sie wollte wenigstens durchsetzen, dass er sie mit ihrem eigenen Wagen zur Galerie fahren ließ, aber auch das lehnte Genoud ab. Solange der Mann nicht festgenommen sei, der Doktor Hoffmann überfallen habe, sagte er, sei das zu gefährlich. Schließlich fügte sie sich ein weiteres Mal seiner ungehobelten professionellen Sturheit und stieg in den Mercedes.
»Klasse Auftritt«, flüsterte Quarry, als er Hoffmann am Ellbogen nahm und aus dem Sitzungszimmer geleitete.
»Meinst du? Ich hatte das Gefühl, dass sie irgendwann gar nichts mehr kapiert haben.«
»Das ist denen doch egal, solange du sie nur irgend wann wieder an den Punkt zurückführst, der ihnen wirklich wichtig ist. Was nämlich für sie unterm Strich rausspringt. Zwischendrin ein bisschen griechische Philosophie mag doch jeder.« Er bugsierte Hoffmann vor sich her. »Mann, der alte Ezra ist wirklich ein ekelhafter Arsch, aber für diese kleine Kopfrechenübung am Ende könnte ich ihn abknutschen.«
Die Kunden warteten geduldig vor dem Handelsraum. Nur der junge Herxheimer und der Pole Ł ukas i ´ nski hatten den anderen den Rücken zugekehrt und sprachen leise, aber lebhaft in ihre Handys. Quarry wechselte einen Blick mit Hoffmann, der nur mit den Achseln zuckte. Selbst wenn sie gegen die Vertraulichkeitsvereinbarung verstießen, konnten sie nicht viel dagegen unternehmen. Ohne Beweis für den Verstoß waren solche Vereinbarungen nur schwer durchzusetzen, und wenn, war es ohnehin in aller Regel zu spät.
»Hier entlang, bitte«, rief Quarry und hielt wie ein Fremdenführer einen Finger in die Luft. Die Kunden folgten ihm in Zweierreihen durch den großen Raum. Herxheimer und Ł ukas i ´ nski beendeten sofort ihre Gespräche und schlossen sich der Gruppe an. Elmira Gulzhan, die eine große Sonnenbrille trug, setzte sich wie selbstverständlich an die Spitze der Schlange. Die in Strickjacke und ausgebeulter Hose hinter ihr herschlurfende Clarisse Mussard sah aus wie ihr Dienstmädchen. Instinktiv warf Hoffmann einen Blick auf den CNBC -Ticker und brachte sich auf den neuesten Stand an den europäischen Märkten. Die seit einer Woche anhaltende Talfahrt schien endlich gestoppt zu sein. Der FTSE 100 war fast um ein halbes Prozent gestiegen.
Sie scharten
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