Angst
trocken.
»Das sind nicht meine Worte. Sie stammen von einem Eskimo-Schamanen, den Elias Canetti in Masse und Macht zitiert. Während der Arbeit an VIXAL -4 hatte ich diese Sätze als Bildschirmschoner auf meinem Computer. Kann ich einen Schluck Wasser haben, Hugo?«
Quarry beugte sich vor und gab ihm eine Flasche Evian und ein Glas. Hoffmann ließ das Glas stehen, schraubte den Plastikverschluss ab und trank aus der Flasche. Er wusste nicht, wie er auf seine Zuhörer wirkte. Es war ihm auch ziemlich egal. Er wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.
»Um 350 vor Christus definierte Aristoteles den Menschen als zoon logon echon, das vernunftbegabte Wesen oder, genauer, als das Wesen, das spricht. Vor allem die Sprache unterscheidet uns von allen anderen Kreaturen auf diesem Planeten. Die Entwicklung der Sprache befreite uns aus einer Welt der physischen Objekte und ersetzte sie durch ein Universum aus Symbolen. Niedrigere Wesen mögen auf eine primitive Weise ebenfalls miteinander kommunizieren und sogar die Bedeutung einiger weniger unserer menschlichen Symbole verstehen lernen – zum Beispiel ein Hund, der auf ›Sitz!‹ oder ›Komm!‹ reagiert. Aber nur der Mensch war in den vielleicht 40 000 zurückliegenden Jahren ein zoon logon echon, ein Wesen mit Sprache. Das ist jetzt vorbei: Wir Menschen teilen unsere Welt mit Computern.«
Hoffmann deutete mit der Flasche zum Handelsraum, wobei er etwas Wasser auf dem Tisch verschüttete.
»Früher stellten wir uns vor, dass Computer – Roboter – die Hilfsarbeiten in unserem Leben übernehmen würden, dass sie sich eine Schürze umbinden und als Roboterdienstmagd herumlaufen und für uns die Hausarbeit oder sonst was erledigen würden, damit wir unsere freie Zeit genießen können. In Wahrheit geschieht das Gegenteil. Wir verfügen über ein riesiges Potenzial an überschüssigen, einfachen Arbeitskräften, die diese simplen Hilfsarbeiten verrichten, oft bei schlechter Bezahlung an sehr langen Arbeitstagen. Stattdessen verdrängen Computer Menschen mit Berufsausbildung: Übersetzer, Medizintech niker, Kanzleiangestellte, Buchhalter, Börsenhändler.
Computer sind zunehmend zuverlässigere Übersetzer in den Bereichen Handel und Technologie. In der Medizin hören sie sich die Symptome von Patienten an, diagnostizieren Krankheiten und verordnen sogar Behandlungen. Im Recht suchen und bewerten sie riesige Mengen an komplexen Dokumenten zu einem Bruchteil der Kosten eines Juristen. Algorithmen zur Spracherkennung erfassen die Bedeutung des gesprochenen wie des geschriebenen Wortes. Nachrichtenbulletins können in Echtzeit analysiert werden.
Als Hugo und ich diesen Fonds gründeten, bestanden unsere Daten ausschließlich aus digitalisierten Finanzstatistiken. Sonst gab es fast nichts. Doch im Lauf der letzten Jahre bekamen wir Zugriff auf eine völlig neue Galaxie von Informationen. Nicht mehr lange, dann wird jede Information auf der Welt digital verfügbar sein – jeder winzige Fetzen an menschlichem Wissen, jeder kleine jemals gedachte Gedanke, den wir für wert befinden, Tausende von Jahren aufbewahrt zu werden. Jede Straße der Welt ist kartografiert, jedes Gebäude fotografiert. Wohin wir Menschen auch gehen oder fahren, was wir kaufen, welche Website wir anklicken, wir hinterlassen eine digitale Spur wie eine Schnecke ihre Schleimspur. Und Computer können diese Daten lesen, durchsuchen, analysieren und schließlich auf verschiedene Arten verwerten, die wir uns heute noch nicht einmal ansatzweise vorstellen können.
Die meisten Menschen sind sich dessen, was passiert ist, kaum bewusst. Warum auch? Wenn Sie aus diesem Gebäude auf die Straße gehen, sieht alles in etwa genauso aus, wie es immer ausgesehen hat. Ein Mensch von vor hundert Jahren könnte in diesem Teil von Genf herumlaufen und sich immer noch wie zu Hause fühlen. Aber hinter der physischen Fassade, den Mauern, den Ziegeln, dem Glas, ist die Welt eine entstellte, verzerrte, geschrumpfte, als ob der Planet in eine andere Dimension übergegangen wäre. Ich gebe Ihnen ein kleines Beispiel. Im Jahr 2007 hat die britische Regierung die Datensätze von fünfundzwanzig Millionen Menschen verloren, ihre Steuerkennziffern, ihre Kontonummern, ihre Adressen, ihre Geburtsdaten. Aber das waren keine Lastwagenladungen, die man verloren hat, das waren gerade mal zwei CD s. Und das ist noch gar nichts. Google wird eines Tages jedes jemals veröffentlichte Buch digitalisiert haben. Bibliotheken werden
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