Angst
vor. Über den Daumen würde ich sagen: VIXAL -2 hat in den sechs Monaten seines Einsatzes im Handel um die zwölf Millionen Dollar gemacht, VIXAL -3 hundertachtzehn Millionen. Stand gestern Abend liegen wir mit VIXAL -4 bei 79,7 Millionen.«
Easterbrook runzelte die Stirn. »Haben Sie nicht gerade gesagt, dass der erst seit einer Woche läuft?«
»Korrekt.«
»Aber das heißt …«
»Das heißt …«, sagte Ezra Klein, der im Kopf nachrechnete und dann fast von seinem Stuhl aufsprang. »Bei einem Zehn-Milliarden-Dollar-Fonds können Sie mit einem Profit von 4,14 Milliarden pro Jahr rechnen.«
»Außerdem ist der VIXAL -4 ein autonomer, selbstler nender Algorithmus«, sagte Hoffmann. »Da er immer weiter Daten sammelt und analysiert, wird er voraussichtlich noch effektiver werden.«
Rund um den Tisch war leises Pfeifen und Gemurmel zu hören. Die beiden Chinesen fingen an, miteinander zu flüstern.
»Sie werden jetzt sicher verstehen, dass wir uns entschlossen haben, zusätzliche Investments anzunehmen«, sagte Quarry grinsend. »Bevor jemand eine Klonstrategie entwickelt, müssen wir unser Spielzeug auf Teufel komm raus melken. Das scheint mir jetzt der passende Moment zu sein, meine Damen und Herren, Ihnen einen Blick auf unseren VIXAL -4 in Aktion zu gewähren.«
Im drei Kilometer entfernten Cologny hatten die Kriminaltechniker die Untersuchung von Hoffmanns Haus abgeschlossen. Die Tatortbeamten – ein junger Mann und eine junge Frau, die man für Studenten oder ein Liebespaar hätte halten können – hatten ihre Ausrüstung eingepackt und waren wieder gefahren. Ein gelangweilter Gendarm saß in der Auffahrt in seinem Wagen.
Gabrielle war in ihrem Studio und zerlegte das Porträt des Fötus. Sie zog jede einzelne Glasplatte aus ihrem Schlitz in dem Holzsockel, wickelte sie in Seidenpapier und Noppenfolie und legte sie dann in einen Pappkarton. Merkwürdig, dachte sie, dass aus dem schwarzen Loch dieser Tragödie so viel kreative Energie fließen konnte. Sie hatte das Baby vor zwei Jahren im sechsten Monat verloren: nicht ihre erste Schwangerschaft, die mit einer Fehlgeburt geendet hatte, aber die bei Weitem längste und niederschmetterndste. Im Krankenhaus hatten die Ärzte eine MRT -Aufnahme von ihr gemacht, was ungewöhnlich gewesen war. Danach hatte sie, anstatt allein in der Schweiz zu bleiben, Alex auf eine Geschäftsreise nach Oxford begleitet. Während er im Hotel Randolph Einstellungsgespräche mit promovierten Wissenschaftlern geführt hatte, war sie in einem Museum auf ein 3-D-Modell der Molekularstruktur von Penicillin gestoßen, das die Nobelpreisträgerin für Chemie Dorothy Hodgkin 1944 aus Plexiglasplatten gebaut hatte. Eine Idee war aufgekeimt, und nachdem sie nach Genf zurückgekehrt waren, hatte sie versucht, die gleiche Technik bei einer MRT -Aufnahme ihrer Gebärmutter anzuwenden, dem Einzigen, was ihr von ihrem Baby geblieben war.
Nachdem sie eine Woche lang experimentiert hatte, hatte sie herausgefunden, welche der zweihundert Schnittbilder für Ausdrucke infrage kamen, welche Tinte sie benutzen musste und wie sie verhindern konnte, dass die Tinte verschmierte. Mehrere Male hatte sie sich an den scharfen Kanten der Glasplatten geschnitten. Das Wunder jenes Nachmittags, als sie sie zum ersten Mal aufzog und die Umrisse erkennbar wurden – die geballten Hände, die eingerollten Zehen –, würde ihr immer in Erinnerung blei ben. Während sie gearbeitet hatte, war draußen vor dem Fenster ihrer damaligen Wohnung der Himmel schwarz geworden. Grellgelbe, gegabelte Blitze zuckten über den Bergen. Sie wusste, dass ihr das niemand glauben würde. Es war zu theatralisch. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie sich eine Urgewalt zunutze gemacht, als hätte sie sich an den Toten vergriffen. Als Alex von der Arbeit nach Hause kam, sah er das Porträt, setzte sich davor und sagte zehn Minuten lang kein Wort.
Ab diesem Tag war sie von den Möglichkeiten, Wissenschaft und Kunst zu verbinden und daraus Bilder von lebenden Formen herzustellen, restlos gefesselt. Meistens war sie ihr eigenes Modell gewesen. Sie überredete die Röntgentechniker im Krankenhaus, Aufnahmen von Kopf bis Fuß von ihr zu machen. Das Gehirn war der schwierigste Teil. Sie musste herausfinden, welche Linien sich am besten zum Nachzeichnen eigneten – der Aquaeductus mesencephali, die Cisterna venae cerebri magnae, das Tentorium cerebelli und die Medulla oblongata. Die Schlichtheit der Form und die ihr eigenen Paradoxien
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