Angst
Schritt zurück und stieß dabei seinen Stuhl um. Quarry sah ihn erschrocken an. »Mein Gott, du wirst ohnmächtig.« Er wollte aufstehen, aber Hoffmann hob abwehrend die Hände. Er machte noch einen Schritt zurück, blieb an den Beinen des umgefallenen Stuhls hängen, stolperte und wäre beinahe gestürzt. Aber er fing sich, drehte sich um, stieß den Stuhl mit dem Fuß zur Seite und lief zur Tür.
Die erstaunten Rufe in seinem Rücken und auch die Stimme Quarrys, der seinen Namen rief, nahm Hoffmann nur noch am Rande wahr. Er lief den verspiegelten Gang entlang und hastete dann die Treppen hinunter. Er packte immer wieder den Handlauf, um die Absätze mit Schwung zu umrunden. Die letzten paar Stufen nahm er mit einem einzigen Satz, dann rannte er an seinem mit einer Hotelangestellten schwatzenden Bodyguard vorbei hinaus auf die Promenade.
Elf
[…] der meistens ununterbrochen-fortdauernde Kampf [ums Daseyn] wird der heftigste seyn, der zwischen den Einzelwesen einer Art stattfindet, welche dieselben Bezirke bewohnen, dasselbe Futter verlangen und denselben Gefahren ausgesetzt sind.
Charles Darwin
D ie Entstehung der Arten , 18 5 9
Der Gehweg unter der Linde auf der anderen Seite der breiten Straße war leer. Hoffmann blieb zwischen den Koffern gerade eintreffender Gäste stehen, sah sich nach allen Seiten um und fluchte dann. Der Portier fragte, ob er ihm ein Taxi rufen solle. Hoffmann ließ ihn einfach stehen und ging an der Vorderseite des Hotels entlang bis zur nächsten Straßenecke. Geradeaus sah er ein Schild mit der Aufschrift HSBC Private Bank, links zweigte eine schmale Einbahnstraße ab, die Rue Docteur-Alfred-Vincent, die an der Seite des Hotels entlangführte. Da ihm nichts Besseres einfiel, bog er in die Straße ein und ging dort an einem Baugerüst, einer Reihe geparkter Motorräder und einer kleinen Kirche vorbei. Nach fünfzig Metern kam er zu einer Querstraße und blieb wieder stehen.
Eine Häuserzeile weiter sah er eine Gestalt in einem braunen Mantel die Fahrbahn überqueren. Als der Mann die andere Straßenseite erreicht hatte, drehte er sich um und schaute in Hoffmanns Richtung. Das war er, kein Zweifel. Ein weißer Lieferwagen, der in eine Seitenstraße einbog, versperrte Hoffmann kurz die Sicht. Danach war der Mann verschwunden.
Hoffmann lief los. Die Energie des Gerechten durchflutete ihn und trieb ihn mit langen, schnellen Schritten vorwärts. Er lief zu der Stelle, wo er den Mann zuletzt gesehen hatte. Wieder eine Einbahnstraße, wieder war er verschwunden. Er lief bis zur nächsten Kreuzung. Die schmalen Straßen lagen ruhig da. Kaum Verkehr, jede Menge parkende Autos, überall kleine Läden – ein Friseur, eine Apotheke, eine Bar. Die Leute erledigten ihre Mittagseinkäufe. Er schaute sich verzweifelt um, wandte sich nach rechts, lief, wandte sich wieder nach rechts und irrte durch das labyrinthische Gewirr schmaler Einbahnstraßen weiter. Er wollte nicht aufgeben, musste sich schließlich aber doch eingestehen, dass er den Mann verloren hatte. Die Straßen veränderten sich. Zunächst fiel ihm das nur beiläufig auf. Die Häuser wurden schäbiger, baufälliger. Manche waren mit Graffiti besprüht. Und plötzlich befand er sich in einer anderen Stadt. Eine halbwüchsige Schwarze in engem Pullover und weißem Microrock aus Kunstfaser rief ihm von der anderen Straßenseite etwas zu. Sie stand vor einem Laden mit einer lila Neonreklame: VIDEO CLUB XXX . Vor ihr marschierten drei weitere Prostituierte, alle schwarz, am Bordstein auf und ab, während ihre Zuhälter rauchend in den Türeingängen standen oder die Frauen von der Straßenecke aus im Auge behielten: junge, kleine, schmale Männer mit olivfarbener Haut und kurz geschorenem schwarzem Haar – Nordafrikaner, vielleicht Albaner.
Hoffmann ging langsamer, um sich zu orientieren. Er musste fast bis zum Bahnhof Cornavin gelaufen und so in das Genfer Rotlichtviertel geraten sein. Vor einem verrammelten Nachtclub – Le Black Kat ( XXX, FILME, MÄDCHEN, SEX ) – blieb er stehen. Die Anschlagbretter vor dem Club waren mit abblätternden Plakaten überzogen. Er spürte einen stechenden Schmerz in der Seite. Die Hände in die Hüften gestemmt, stand er vornübergebeugt am Rinnstein und rang um Atem. Keine drei Meter von ihm entfernt saß eine asiatische Prostituierte in einem Ladenschaufenster und beobachtete ihn. Sie trug ein schwarzes Korsett und schwarze Strümpfe und saß mit übergeschlagenen Beinen auf einem roten Damaststuhl.
Weitere Kostenlose Bücher