Angst
Quarry gedehnt. Unter anderen Umstän den hätte sich Hoffmann über Quarrys britische Kaltblütigkeit im Angesicht einer drohenden Katastrophe amüsiert. »Was soll das heißen, Alex? Soll das heißen, dass du lieber ins Krankenhaus möchtest?«
»Nein. Wenn ich mich setze, geht’s schon.«
»Du solltest etwas essen, das hilft«, sagte Quarry mit hoffnungsfroher Stimme. »Du hast bestimmt den ganzen Tag noch nichts gegessen, hab ich recht? Kein Wunder, dass du dich sonderbar fühlst.« Er nahm Hoffmann am Arm und führte ihn zum Tisch. »Setz dich hierhin, mir gegenüber, dann kann ich dich im Auge behalten. Später wechseln ja ohnehin alle den Platz. Ach, übrigens, gute Nachrichten von der Wall Street.« Er dämpfte die Stimme. »Sieht ganz so aus, dass der Dow ziemlich schwach eröffnet.«
Ein Kellner half Hoffmann, sich auf den Stuhl zwischen Etienne Mussard und dem Pariser Anwalt François de Gombart-Tonnelle zu setzen. Deren Begleiterinnen, Clarisse Mussard und Elmira Gulzhan, saßen ihm gegenüber links und rechts von Quarry. Die Chinesen saßen an dem einen Tischende, die amerikanischen Banker Klein und Easterbrook am anderen. Dazwischen hatten sich Herxheimer, Mould, Ł ukas i ´ nski und mehrere Anwälte und Berater verteilt, die die natürliche Jovialität von Männern ausstrahlten, die sich ihre Stundensätze bezahlen ließen und gleichzeitig ein Gratismahl genossen. Ein Kellner schüttelte eine schwere Leinenserviette aus und legte sie Hoffmann über den Schoß. Der Sommelier bot ihm Rot- und Weißwein zur Wahl an, einen 2006er Louis Jadot Montrachet Grand Cru oder einen 95er Latour, die er beide ablehnte. Er nahm ein stilles Wasser.
»Wir haben uns gerade über Steuersätze unterhalten, Alex«, sagte de Gombart-Tonnelle. Mit seinen langen Fingern brach er ein winziges Stück von seinem Brötchen ab und steckte es sich in den Mund. »Wir haben gerade fest gestellt, dass Europa auf dem besten Wege ist, der alten Sowjet union Konkurrenz zu machen. Frankreich 40 Prozent, Deutschland 45, Spanien 47, Großbritannien 50 …«
»Fünfzig Prozent!«, sagte Quarry. »Nicht dass Sie mich falsch verstehen. Ich bin so patriotisch wie jeder andere, aber möchte ich wirklich eine Fifty-Fifty-Partnerschaft mit der Regierung Ihrer Majestät eingehen? Eher nicht.«
»Es gibt keine Demokratie mehr«, sagte Elmira Gulzhan. »Der Staat übt so viel Kontrolle aus wie noch nie zuvor. Alle unsere Freiheiten gehen zum Teufel, aber das scheint niemand zu kümmern. Das ist das wirklich Deprimierende an unserem Jahrhundert.«
De Gombart-Tonnelle war mit seiner Auflistung noch nicht fertig: »Sogar in Genf steht er schon bei vierundvierzig Prozent …«
»Sie wollen mir ja wohl nicht weismachen, dass Sie hier vierundvierzig Prozent zahlen, oder?«, sagte Iain Mould.
Quarry lächelte, als hätte ihm ein kleines Kind eine Frage gestellt. »Theoretisch müssen vierundvierzig Prozent vom Gehalt abgeführt werden. Aber wenn man sich das Einkommen als Dividende auszahlen und sein Geschäft im Ausland registrieren lässt, dann sind vier Fünftel der Dividende ganz legal steuerfrei. Vierundvierzig Prozent zahlt man nur auf das eine Fünftel, macht also im Höchstfall 8,8. Das stimmt doch so, oder, Amschel?«
Herxheimer, der in Zermatt lebte, seinen offiziellen Wohnsitz aber dank einer meisterhaft organisierten Materieübertragung auf Guernsey hatte, bestätigte, dass es in der Tat so sei.
»8,8 Prozent«, wiederholte Mould. Er sah blass aus. »Schön für Sie.«
Vom Ende des Tisches rief Easterbrook: »Ich wandere aus und lasse mich in Genf nieder.«
»Klar, aber versuch das mal Uncle Sam zu erklären«, sagte Klein düster. »Die Jungs vom Finanzamt hetzen dich bis ans Ende der Welt, solange du einen amerikanischen Pass hast. Hast du schon mal versucht, deine amerikanische Staatsbürgerschaft loszuwerden? Keine Chance. Ist wie in den Siebzigern, wenn du als sowjetischer Jude nach Israel auswandern wolltest.«
»Keine Freiheit mehr«, sagte Elmira Gulzhan wieder. »Wie ich gesagt habe. Der Staat nimmt uns alles, und wenn wir es wagen sollten, dagegen zu protestieren, dann sperren sie uns ein, weil wir uns politisch nicht korrekt verhalten.«
Hoffmann starrte auf die Tischdecke und ließ die Unterhaltung an sich vorbeiplätschern. Er wusste jetzt wieder, was ihm an den Reichen so zuwider war: ihr Selbst mitleid. Während sich Otto Normalverbraucher über Sport oder das Wetter unterhielt, war die Grundlage ihrer Gespräche
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