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Angst

Angst

Titel: Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Jetzt stellte sie die Beine auf den Boden und lockte ihn mit dem Zeigefinger. Plötzlich zog ein unsichtbarer Mechanismus einen Vorhang vor die Szene.
    Hoffmann streckte sich. Er war sich bewusst, dass die Mädchen und ihre Zuhälter ihn beobachteten. Einer der Männer – er war etwas älter als die anderen und hatte ein Rattengesicht mit pockennarbiger Haut – betrachtete ihn und sprach dabei in sein Handy. Hoffmann ging den Weg zurück, den er gekommen war. Er schaute in alle abzweigenden Gassen und Innenhöfe, vielleicht hatte sich der Mann ja irgendwo versteckt. Er kam an einem Sexshop vorbei – Je Vous Aime. Im Schaufenster lagen ein paar nachlässig ausgestellte Artikel: Vibratoren, Perücken, erotische Unterwäsche. An eine Holzplatte war ein schwarzer Slip Ouvert genagelt, der wie eine tote Fledermaus aussah. Die Tür stand offen, den Blick ins Innere versperrte allerdings ein Vorhang aus bunten Plastikstreifen. Er dachte an die Handschellen und den Ballknebel, die der Einbrecher in seinem Haus zurückgelassen hatte. Leclerc hatte gesagt, dass die aus einem solchen Laden stammen könnten.
    Plötzlich klingelte sein Handy. Die SMS auf dem Display lautete »Rue de Berne 91 Zimmer 68«.
    Er starrte sie ein paar Sekunden an. War er nicht gerade in der Rue de Berne gewesen? Er drehte sich um. Tatsächlich, das blaue Straßenschild stand direkt vor ihm. Er schaute wieder auf das Display. Kein Absender. Die Nummer, von der aus die SMS geschickt worden war, war nicht erreichbar. Er sah sich um, um zu prüfen, ob ihn jemand beobachtete. Die Plastikstreifen bewegten sich. Ein fetter, kahlköpfiger Mann, der eine dreckige Weste und darüber Hosenträger trug, trat ins Freie.
    »Que voulez-vous, monsieur?«
    »Rien.«
    Hoffmann ging zurück in die Rue de Berne. Die lange Straße war heruntergekommen, aber sie war zweispurig mit einer Trambahn-Oberleitung und belebter, sodass er sich wieder etwas sicherer fühlte. An der Kreuzung befanden sich ein Obst- und Gemüseladen mit einer Auslage davor, daneben ein tristes kleines Café mit ein paar leeren Tischen und Stühlen aus Aluminium auf dem Gehweg und ein Tabakladen, vor dem ein Schild mit der Aufschrift Telefonkarten, Videos X , DVD s X , Revues X USA stand. Er schaute auf die Hausnummern. Links von ihm wurden sie höher. Er ging los und hatte binnen einer halben Minute Nordeuropa verlassen und war in den südlichen Mittelmeerraum gewandert: libanesische und marokkanische Restaurants, gezwirbelte arabische Schriftzeichen an den Ladenfronten, Lautsprecher, aus denen blechern arabische Musik plärrte, der Geruch fettige Döner, der ihm den Magen umdrehte. Aber nirgendwo war Abfall zu sehen. Allein dieses kuriose Phänomen verriet ihm, dass er sich in der Schweiz befand.
    Die Nummer 91 befand sich gegenüber einem Laden, der afrikanische Kleidung verkaufte. Von dem vielleicht hundert Jahre alten, verwahrlosten siebenstöckigen Stuckgebäude blätterte die gelbe Farbe ab. Jedes Stockwerk besaß vier Fenster mit eisernen, grün gestrichenen Fensterläden. Die einzelnen Buchstaben des Hotelnamens, der sich senkrecht fast über die gesamte Höhe des Gebäudes zog, sprangen weit hervor – HOTEL DIODATI . Die meisten Fensterläden waren geschlossen. Ein paar waren halb nach oben geklappt und sahen aus wie schlaff herabhängende Augenlider. Die Zimmer dahinter verbargen sich hinter gräulich weißen Gardinen mit Blumenmuster. Die schwere antike Holztür im Erdgeschoss kam Hoffmann unpassend vor. Sie erinnerte ihn an Venedig und war sicherlich älter als das Haus. Ihre kunstvollen Schnitzereien sahen aus wie Freimaurersymbole. Als er sie betrachtete, schwang die Tür nach innen auf, und aus dem Halbdunkel tauchte ein Mann in Jeans und Turnschuhen auf. Das Gesicht war unter der Kapuze seines Sweatshirts nicht zu erkennen. Er steckte die Hände in die Taschen, zog die Schultern hoch und ging die Straße hinunter. Eine Minute später ging die Tür wieder auf. Diesmal erschien eine Frau, jung, schmal, wuschelige, orange gefärbte Haare, schwarz-weiß karierter Rock. Sie trug eine Umhängetasche. Auf der Schwelle blieb sie kurz stehen, öffnete die Tasche, suchte nach etwas, nahm schließlich eine Sonnenbrille heraus, setzte sie auf und ging in die entgegengesetzte Richtung wie der Mann davon.
    Hoffmann hatte eigentlich nicht geplant, das Hotel zu betreten. Er beobachtete es eine Zeit lang, überquerte dann die Straße und lungerte kurz vor der Tür herum. Dann drückte er sie ein

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