Angst
sehen als unsereins. Ein ziemlicher Brocken meiner Lebenszeit geht dafür drauf, geringeren Sterblichen sein Verhalten zu erklären. Ich marschiere immer vor ihm her, wie Johannes der Täufer. Oder hinter ihm.«
Er dachte an das Essen im Beau-Rivage, als er gleich zweimal gezwungen gewesen war, einfachen Erdenbürgern Hoffmanns Benehmen begreiflich zu machen – das erste Mal, als er eine halbe Stunde zu spät aufgetaucht war (»Er lässt sich entschuldigen, aber er sitzt gerade über einem sehr komplexen Theorem«), und dann, als er sich mitten im Hauptgang aus dem Staub gemacht hatte (»Tja, Freunde, da geht er hin, schätze, er hatte gerade einen seiner genialischen Geistesblitze«). Sie hatten zwar ein bisschen gegrummelt und die Augen verdreht, aber sie hatten es geschluckt. Solange er ihnen 83 Prozent Rendite bescherte, würden sie es auch schlucken, wenn er sich nackt von den Dachsparren schwang und dabei auf der Ukulele klimperte.
»Wie haben Sie sich kennengelernt?«, fragte Leclerc.
»Als wir die Firma aufgemacht haben.«
»Und wie kam es dazu?«
»Wollen Sie etwa die ganze Love-Story hören, von Anfang an?« Quarry verschränkte die Hände hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und nahm seine Lieblingsposition ein – Füße auf dem Schreibtisch. Er erzählte immer wieder gern die Geschichte, die er schon hundertmal, vielleicht tausendmal erzählt und inzwischen zum Gründungsmythos einer Firma verfeinert hatte: Sears trifft Roebuck, Rolls trifft Royce, Quarry trifft Hoffmann. »Es war Weihnachten 2001. Ich habe in London für eine große amerikanische Bank gearbeitet. Ich ging mit der Idee schwanger, meinen eigenen Fonds aufzulegen. Das Geld konnte ich auftreiben, Verbindungen hatte ich, das war nicht das Problem. Aber ich hatte keinen Schlachtplan, der über einen langen Zeitraum tragen würde. In diesem Geschäft muss man eine Strategie haben. Wussten Sie, dass die durchschnittliche Lebensdauer eines Hedgefonds drei Jahre beträgt?«
»Nein«, sagte Leclerc höflich.
»Tja, so ist es aber. Das ist die Lebenserwartung eines durchschnittlichen Hamsters. Egal, jedenfalls hat mir ein Kollege aus unserem Genfer Büro von einem außerordentlich strebsamen Wissenschaftler am CERN erzählt, der anscheinend ein paar ganz interessante Ideen zum Thema Algorithmen habe. Wir dachten, den könnten wir als Quant anheuern. Aber der hat nicht mal reagiert, null, wollte uns nicht treffen, wollte nicht mal wissen, worum es geht. Komplett bescheuert, totaler Eremit. Quants – was haben wir gelacht! Aber was sollten wir machen? Trotzdem, irgendwie hat der Kerl mich interessiert. Ich weiß nicht genau, warum. Hatte ich irgendwie im Urin. Jedenfalls hatte ich über die Feiertage einen kleinen Skiurlaub geplant, und da habe ich mir gedacht, schau mal bei dem Burschen vorbei …«
Er beschloss, an Silvester Kontakt aufzunehmen. Er hatte sich gedacht, dass Silvester eigentlich ein Tag sein müsste, an dem sogar ein Eremit sich genötigt fühlen würde, unter Leute zu gehen. Also hatte er – froh um die Ausrede, sich absetzen zu können, und trotz Sallys Vorhaltungen – seine Frau, seine Kinder und ihre schauderhaften Nachbarn aus Wimbledon, mit denen sie das Chalet in Chamonix gemietet hatten, sich selbst überlassen und war allein nach Genf gefahren. Die Straßen waren frei, im Schein eines Dreiviertelmonds leuchteten die Berge blau. Als er sich mit seinem Mietwagen dem Genfer Flughafen näherte, hielt er an, um auf der Hertz-Straßenkarte – Navigationssysteme waren damals noch unbekannt – nach dem Weg zu schauen. Gleich hinter dem CERN , immer geradeaus, lag auf der französischen Seite in einer fruchtbaren, in der Kälte glitzernden Ebene Saint-Genis-Pouilly, eine kleine Stadt mit einem Café im kopfsteingepflasterten Zentrum und gepflegten Häusern mit roten Dächern. Hoffmann wohnte in einem von mehreren modernen, ockerfarbenen Wohnblocks aus Beton, die erst ein paar Jahre alt waren. An den Balkonen, auf denen zusammengeklappte Metallstühle standen, waren Windklangspiele und leere Blumenkästen angebracht. Quarry klingelte lange. Obwohl er einen blassen Lichtstreifen unter der Tür sah, machte niemand auf. Schließlich sagte ihm ein Nachbar, dass tout le monde du CERN auf einer Party in einem Haus in der Nähe des Sportstadions sei. Unterwegs kaufte Quarry in einer Bar eine Flasche Cognac und kurvte so lange durch die dunklen Straßen, bis er das Haus fand.
Noch nach mehr als acht Jahren konnte er sich gut
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