Angst
den Laptop her?«, fragte sie. Aber er hörte ihr nicht zu. Er verglich, was er auf den beiden Bildschirmen sah. Im Wechsel überflog er die Aufzeichnungen in den beiden Computern. Es war, als betrachtete er sich in zwei dunklen Spiegeln. Die Texte in beiden Dokumenten waren identisch. Alles, was er ihr vor neun Jahren offenbart hatte, war per Kopieren und Einfügen auf die Website hochgeladen worden, auf der der Deutsche es gelesen hatte.
Ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, fragte er: »Ist der Computer mit dem Internet verbunden?« Dann sah er, dass der Rechner tatsächlich ans Netz angeschlossen war. Er öffnete die Systemdateien und hatte das Schadprogramm schnell gefunden – vier seltsame Dateien, wie er noch nie zuvor welche gesehen hatte:
»Jemand ist in Ihr System eingedrungen«, sagte er. »Die haben meine Krankenakten gestohlen.« Er schaute zur Tür. Sie war verschwunden. Das Sprechzimmer war leer, die Tür angelehnt. Er hörte ihre Stimme. Es klang, als telefonierte sie. Er schnappte sich den Laptop und hastete die schmalen Treppen hinunter. Der junge Mann kam hin ter dem Empfangstisch hervor und versuchte, ihm den Weg zu versperren. Hoffmann stieß ihn mühelos zur Seite.
Draußen machte sich die Normalität des Lebens über ihn lustig – die alten Männer im Café, die Mutter mit ihrem Kinderwagen, das Au-pair-Mädchen, das die Wäsche aus der Wäscherei abholte. Er wandte sich nach links und bog mit schnellen Schritten in eine schattige Straße ein. Er ging vorbei an tristen Geschäften mit heruntergelassenen Rollläden, an der Pâtisserie, die für heute Feierabend gemacht hatte, an Vorstadthecken und den vernünftigen kleinen Autos. Er wusste nicht, wohin er ging. Normalerweise förderte es seine Konzentration und Kreativität, wenn er spazieren ging, joggte oder rannte. Jetzt nicht. Seine Gedanken waren in Aufruhr. Er ging einen Hügel hinunter. Zu seiner Linken sah er Schrebergärten und dann – völlig überraschend – freie Felder, eine weitläufige, riesige Fabrik mit einem Parkplatz, Wohnblocks, in der Ferne die Berge und über ihm das Halbrund des Himmels, an dem eine gewaltige Flotte grauer Wolken Schlachtschiffen gleich vorüberzog.
Nachdem er eine Zeit lang gegangen war, gelangte er an eine Stelle, an der die Straße von einem Betondamm abgeschnitten war, auf dem eine Autobahn verlief. Die Straße verengte sich zu einem schmalen Weg, der nach links abzweigte und an der lärmenden Autobahn entlangführte. Er ging zwischen ein paar Bäumen hindurch und stand plötzlich am Ufer des Flusses. Die Rhône war an dieser Stelle etwa zweihundert Meter breit. Träge, braun und trüb schlängelte sie sich durch die offene Landschaft. Das bewaldete Ufer gegenüber stieg steil an. Eine Fußgängerbrücke, die Passerelle de Chèvres, verband die beiden Ufer. Er erkannte sie wieder. Einst hatte er im Sommer vom Auto aus beobachtet, wie Kinder von der Brücke ins Wasser gesprungen waren. Das friedliche Bild stand in merkwürdigem Kontrast zu dem donnernden Verkehr. Als er die Brücke betrat, kam ihm plötzlich der Gedanke, dass er völlig aus dem normalen Leben herausgekippt war und es ihm schwerfallen würde, wieder in dieses Leben zurückzufinden. In der Mitte der Brücke bestieg er das eiserne Schutzgitter. Nur ein paar Sekunden würde er fallen, fünf oder sechs Meter tief, dann würde er in die langsame Strömung eintauchen und davongetragen werden. Er verstand jetzt, warum die Schweiz das Weltzentrum für Sterbehilfe war – die Organisation des ganzen Landes schien wie dafür geschaffen zu sein, sich ungestört und diskret, mit so wenig Aufsehen wie möglich, aus dem Dasein zu verabschieden.
Hoffmann spürte die Versuchung. Er gab sich keinen Illusionen hin: In dem Hotelzimmer würden sich haufenweise DNS -Spuren und Fingerabdrücke finden, die ihn mit dem Tod des Deutschen in Verbindung bringen würden. Seine Festnahme war nur eine Frage der Zeit. Er wusste, was ihm bevorstand: ein Spießrutenlauf, der sich monatelang hinziehen würde – Polizei, Anwälte, Journalisten, blitzende Fotoapparate. Er dachte an Quarry und Gabrielle. Vor allem an Gabrielle.
Aber er war nicht verrückt, dachte er. Er hatte vielleicht einen Mann getötet, aber er war nicht verrückt. Er war das Opfer eines ausgeklügelten Plans, der ihn glauben machen sollte, er wäre verrückt. Oder jemand versuchte, ihm eine Falle zu stellen, ihn zu erpressen, ihn zu vernichten. Er fragte sich, wem er es eher zutraute,
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