Angst
einer derart teuflisch ausgeklügelten Intrige auf den Grund zu gehen: den Be hörden, vor allem diesem abgehalfterten Pedanten Leclerc, oder sich selbst. Eine rhetorische Frage.
Er zog das Handy des Deutschen aus der Tasche und warf es ins Wasser. Auf der dreckigen Oberfläche schäumte kurz eine kleine weiße Narbe auf.
Auf der anderen Seite standen ein paar Kinder neben ihren Fahrrädern und beobachteten ihn. Er kletterte wieder von dem Gitter herunter, ging mit dem Laptop unter dem Arm zum anderen Ufer und einfach an den Kindern vorbei. Er war darauf gefasst, dass sie ihm hinterherrufen würden, aber sie standen nur ernst und schweigend da. Etwas an seinem Aussehen musste ihnen Angst eingejagt haben.
Gabrielle hatte noch nie zuvor einen Fuß auf das Gelände des CERN gesetzt. Es erinnerte sie sofort an ihre alte Uni versität im Norden Englands – hässliche, funktionale Büro bauten aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die sich über einen großen Campus verteilten, schmuddelige Gänge voller ernsthafter, meist junger Menschen, die plaudernd vor Plakaten standen, die Vorträge und Konzerte ankündigten. Sogar der akademische Geruch nach Bohnerwachs, Körperwärme und Mensaessen war der gleiche. Hier konnte sie sich Alex viel besser vorstellen als in den eleganten Büros in Les Eaux-Vives.
Professor Waltons Sekretärin hatte sie in der Lobby des Rechenzentrums zurückgelassen und war nun auf der Suche nach ihm. Während Gabrielle verlassen dastand, verspürte sie den starken Drang zu fliehen. Sie hatte Walton angerufen, hatte seine Verwunderung ignoriert und gefragt, ob sie gleich vorbeikommen könne: Dann werde sie ihm persönlich erzählen, worum es gehe. Was sie zu Hause in Cologny, als sie im Bad seine Visitenkarte aus der Jackentasche gezogen hatte, noch für eine gute Idee gehalten hatte, kam ihr jetzt hysterisch und peinlich vor. Als sie sich zum Ausgang umdrehte, fiel ihr Blick auf eine Vitrine mit einem alten Computer. Als sie darauf zuging, konnte sie lesen, dass es sich um den N e XT -Rechner handelte, mit dem 1991 am CERN die Ära des World Wide Web begonnen hatte. An dem schwarzen Metallkasten hing immer noch der alte Warnhinweis für die Putzkolonne: »Diese Maschine ist ein Server – NIEMALS AUSSCHALTEN !« Erstaunlich, dachte sie, mit etwas solch Banalem hatte alles begonnen …
»Die Büchse der Pandora«, hörte sie eine Stimme in ihrem Rücken. Sie drehte sich um. Es war Walton. Sie fragte sich, wie lange er sie schon beobachtet hatte. »Oder das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen. Am Anfang steht der Versuch, die Ursprünge des Universums zu ergründen, und am Ende hat man eBay. Kommen Sie, wir gehen in mein Büro. Leider habe ich nicht viel Zeit.«
»Ich möchte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten. Ich kann auch später noch mal vorbeikommen.«
»Nein, nein, schon gut.« Er betrachtete sie aufmerksam. »Geht’s um Kunst aus Teilchenphysik, oder hat Ihr Besuch zufällig mit Alex zu tun?«
»Tja, eigentlich geht’s um Alex.«
»Hab ich mir gedacht.«
Er ging mit ihr durch einen Korridor, an dessen Wänden Bilder von alten Computern hingen, und dann in ein schäbiges, funktionales Bürogebäude. Die Milchglastüren und Linoleumböden, die grellen Neonröhren und grau gestrichenen Wände entsprachen ganz und gar nicht der Vors tellung, die sie sich von der Heimstatt des Large Hadron Collider gebildet hatte. Aber wieder konnte sie sich Alex sehr gut hier vorstellen: Die Umgebung war jedenfalls viel charakteristischer für den Mann, den sie geheiratet hatte, als das von einem Innenarchitekten entworfene, mit Ledersesseln ausgestattete Arbeitszimmer voller Erstausgaben in Cologny.
»Und hier hat er geschlafen, der große Wissenschaftler«, sagte Walton, als er die Tür zu einer spartanisch eingerichteten Zelle mit zwei Schreibtischen, zwei Computern und Blick auf einen Parkplatz öffnete.
»Geschlafen?«
»Und gearbeitet, muss man fairerweise sagen. Zwanzig Stunden Arbeit, vier Stunden Schlaf. In der Ecke da drüben hat er immer seine Matratze ausgerollt.« Er lächelte kaum merklich, als er an die Zeiten zurückdachte, und sah Gabrielle mit seinen ernsten grauen Augen an. »Als Sie ihn damals auf unserer kleinen Silvesterparty kennengelernt haben, da war Alex, glaube ich, schon nicht mehr am Institut. Oder er war gerade auf dem Sprung, na ja, egal. Ich nehme an, es gibt ein Problem.«
»Ja.«
Er nickte, als hätte er Gabrielles Antwort erwartet. »Kommen Sie.« Er führte sie
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