Angst
in sein Büro. Es sah genauso aus wie Alex’ altes Büro, außer dass es nur einen Schreibtisch gab und Walton es ein wenig anheimelnder gestaltet hatte – mit einem alten Perserteppich auf dem Boden und ein paar Topfpflanzen auf der rostenden Stahlfensterbank. Auf dem Aktenschrank stand ein Radio, aus dem leise klassische Musik drang. Ein Streichquartett. Er schaltete es aus. »Bitte, setzen Sie sich. Also, was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte wissen, was er damals hier gemacht hat und was falsch gelaufen ist. Soviel ich weiß, hatte er einen Nervenzusammenbruch, und ich habe das ungute Gefühl, als würde so etwas Ähnliches gerade wieder passieren.« Sie schaute auf ihre Knie. »Entschuldigung, aber ich weiß nicht, wen ich sonst fragen könnte.«
Walton saß hinter seinem Schreibtisch. Er hatte seine langen, zu einem Dach geformten Finger an die Lippen gelegt. Er musterte sie eine Zeit lang. Schließlich sagte er: »Haben Sie schon mal vom Desertron gehört?«
Desertron, erzählte Walton, war der Spitzname für Amerikas Superconducting Super Collider – ein Teilchenbeschleuniger-Projekt mit einem auf 87 Kilometer Länge geplanten Tunnel in Waxahachie, Texas. 1993 entschied der amerikanische Kongress in seiner grenzenlosen Weisheit, das Projekt einzustellen. Das sparte den amerikanischen Steuerzahlern zehn Milliarden Dollar. (»Wahrscheinlich ha ben die damals auf den Straßen getanzt.«) Allerdings mach te diese Entscheidung auch die Karriereplanung von fast einer ganzen Generation amerikanischer Physiker zunich te, darunter die des brillanten jungen Wissenschaftlers Alex Hoffmann, der damals gerade seine Promotion in Princeton abschloss.
Am Ende war Alex – er war damals vielleicht fünfundzwanzig, aber schon ziemlich renommiert – einer der Glücklichen, denen eines der sehr wenigen Stipendien für Nichteuropäer am CERN zugesprochen wurde, was ihm die Mitarbeit an der Entwicklung des Large Electron-Positron Collider, des Vorläufers des Large Hadron Collider, ermöglichte. Die meisten seiner Kollegen mussten sich leider als Quants an der Wall Street verdingen, wo sie statt an Teilchenbeschleunigern an Derivaten herumbastelten. Und das ging ja dann schief. Das Bankensystem implodierte und musste vom Kongress mit Steuergeldern in Höhe von 3,7 Billionen Dollar gerettet werden.
»Wieder so ein Beispiel für das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen«, sagte Walton. »Wussten Sie, dass Alex mir vor etwa fünf Jahren einen Job angeboten hat?«
»Nein.«
»Das war noch vor der Bankenkrise. Ich sagte ihm, dass meiner Meinung nach Wissenschaft auf höchstem Niveau und Geld nicht zusammengehören. Das ist eine instabile Verbindung. Möglich, dass ich den Ausdruck ›schwarze Magie‹ benutzt habe. Wie auch immer, jedenfalls hatten wir wieder einen Riesenkrach.«
Gabrielle nickte eifrig. »Ich weiß, was Sie meinen. Da ist eine Spannung in ihm, die habe ich bei ihm schon immer wahrgenommen. Aber vor allem in letzter Zeit.«
»Genau. Im Lauf der Jahre habe ich viele kennengelernt, die die Seiten gewechselt haben, von der theoretischen Wissenschaft zum Geldverdienen – zugegebenermaßen keiner so erfolgreich wie Alex. Und man merkt immer, gerade weil sie es so hartnäckig bestreiten, dass sie sich dafür insgeheim verachten.«
Es schien ihn zu quälen, was aus seiner Profession geworden war, so als hätte man sie aus einem Zustand der Gnade gerissen. Wieder fiel Gabrielle das Bild des Priesters ein. Walton machte – genau wie Alex – einen entrückten Eindruck auf sie.
Sie musste ihm auf die Sprünge helfen. »Zurück in die Neunziger …«
»Ja, sicher, Entschuldigung. Zurück in die Neunziger …«
Als Alex nach Genf gekommen war, hatten erst ein paar Jahre zuvor Wissenschaftler am CERN das World Wide Web erfunden. Und komischerweise hatte gerade das seine Fantasie beflügelt: nicht mehr die Rekonstruktion des Urknalls, die Entdeckung des göttlichen Teilchens oder die Schaffung von Antimaterie, sondern die Möglichkeiten des sogenannten Serial Processing, das noch junge Gebiet des maschinellen Lernens, das globale Gehirn.
»Bei dem Thema war er Romantiker – so was ist immer gefährlich. Ich war sein Abteilungsleiter im Rechenzentrum. Maggie und ich haben ihm ein bisschen unter die Arme gegriffen. Damals hat er oft den Babysitter für unsere Jungs gemacht. Ein hoffnungsloser Fall.«
»Das glaube ich aufs Wort.« Bei dem Gedanken an Alex mit Kindern biss sie sich auf die Lippen.
»Absolut
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