Angsthauch
vorgekommen, weil es ihr eigenes war.
»Möchten Sie Ihr Baby sehen?«, hatte die Hebamme gefragt, als Rose schluchzend dagelegen hatte, noch ganz benommen vom Pethidin, das Polly ihr aufgedrängt hatte.
»Nein«, hatte Polly geantwortet. »Was das angeht, hat sie sich klar ausgedrückt.«
Die Hebamme hatte mit den Schultern gezuckt, das in Decken gewickelte Bündel aus dem Zimmer getragen und seinen neuen Eltern in die Arme gelegt. Rose hatte mit der ganzen Sache nichts zu tun gehabt. Polly hatte Verbindung zu einer katholischen Adoptionsagentur aufgenommen, die mit ihrer Unterstützung alles in die Wege geleitet hatte.
Polly musste mit der Agentur in Verbindung geblieben sein. Hatte sie den Kontakt zu Lucy nur gehalten, um diese Wiedervereinigung zu inszenieren? Hatte sie gar die beiden jungen Leute miteinander verkuppelt? Und Tante Polly ? Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten?
Es war ein Fehler gewesen, Polly jemals zu vertrauen.
Alles, was Rose über die Adoptiveltern gewusst hatte, war, dass sie ebenfalls in Brighton wohnten. Das war einer der Gründe gewesen, weshalb sie danach so schnell wie möglich die Stadt hatte verlassen wollen. Brighton sei eine Kleinstadt, hatten ihre Eltern sie belehrt, bevor sie nach Schottland geflohen waren. Eine Stadt, in der Skandale besonders gut gediehen. Eine Stadt, in der man nicht niesen könne, ohne dass alle davon erfuhren.
»Gareth müsste in ungefähr einer Stunde hier sein«, sagte Polly, an Frank gewandt. »Ich glaube, es ist besser, wenn ihr zwei erst mal geht. Die Situation ist für ihn schon schwierig genug. Wir sollten uns das hier für einen späteren Zeitpunkt aufheben. Sobald er über das hinweg ist, was Rose ihm angetan hat, können wir uns in aller Ruhe ihrer Vergangenheit zuwenden.«
Rose riss den Blick von dem jungen Mann los, stand auf und ging ins Bad. Sie schloss die Tür ab und kniete sich vor die Toilettenschüssel, in der Erwartung, sich übergeben zu müssen. Aber es kam nichts. Nicht einmal dazu war sie noch in der Lage. Sie schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Gareth war auf dem Weg nach Brighton. Alle hielten sie für geisteskrank. Es sah nicht gut aus.
Hatte Polly Anna von Frank erzählt? Von dem großen Geheimnis, das ihre Mutter all die Jahre gehütet hatte? Hatte sie – bei der Vorstellung umklammerte Rose erneut die Toilettenschüssel – Gareth davon erzählt? Gareth, der wegen seiner eigenen Vergangenheit nie, nie, niemals davon erfahren durfte? Daran wagte Rose nicht einmal zu denken.Ihr Instinkt drängte sie, nach Hause zu fahren. Sie musste sich sammeln, einen Plan machen. Solange sie hier in Brighton war, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Und was noch wichtiger war: Sie schwebte in Gefahr. Sie musste weg, und es gab nur einen einzigen Ort, an den sie fliehen wollte.
Ein Telefon. Sie brauchte ein Telefon. Sie huschte zum vorderen Schlafzimmer, von dem sie annahm, dass es Lucys war. Unten in der Küche unterhielten sich die anderen immer noch. Ihre gedämpften, kummervollen Stimmen klangen, als hielten sie Wache bei einem Toten.
Roses Vermutung in Bezug auf das Schlafzimmer erwies sich als richtig, und neben dem Bett lag tatsächlich ein Telefon. Vorsichtig nahm sie es hoch und tippte die Nummer eines Taxiunternehmens ein, deren Zahlenfolge so klug gewählt war, dass sie ihr selbst nach zwanzig Jahren sofort wieder einfiel.
»Hallo. Ich hätte gern ein Taxi zum St. Luke’s Rise fünfundzwanzig. Nach Bath. Ja, Bath in der West Country. Ja, ich weiß, dass es teuer wird, aber das ist mir egal. Und der Fahrer soll bitte nicht anrufen oder hupen, wenn er da ist. Ich warte im Haus, und wenn er vorfährt, komme ich nach draußen. Und wir brauchen eine Babyschale.«
Danach ging Rose zurück ins Zimmer, wo Flossie und Anna schliefen. Sie zog sich an und warf den Großteil ihrer Sachen in den Rucksack und den Trolley. Dann weckte sie Anna behutsam auf.
»Anna, komm, wir spielen ein Spiel. Wir tun so, als müssten wir fliehen. Niemand darf uns hören. Du musst mucksmäuschenstill sein und ganz leise die Treppe runterschleichen.«
Anna war schlaftrunken und verwirrt, aber zum Glück genauso folgsam, wie Rose es sich erhofft hatte. Rose nahm Flossie auf den Arm, und die drei warteten schweigend in Lucys Schlafzimmer, bis das Taxi in die nasse, dunkle Straße einbog und vor dem Haus hielt. Sein orangefarbenes Leuchtschild spiegelte sich in den Pfützen.
»Schnell!«, sagte Rose. »Die Treppe runter und
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