Angsthauch
während sie und Nico Kartoffeln schälten.
»Und, Nico? Wie war dein zweiter Schultag?«
»Ganz okay«, meinte er. »Außer …«
»Außer was?«, wollte Rose wissen.
»Na ja, ein paar machen sich über uns lustig.«
»Wieso das?«
»Sie sagen, ich spreche komisch.«
»Wer sagt das?«
»Ach, nur so ein paar in meiner Klasse. Die sind sowieso blöd.«
»Wer denn?«
»Nee, ist nicht so wichtig.«
Rose nahm sich vor, gleich am nächsten Tag mit der Klassenlehrerin zu sprechen.
»Und wie gefällt es dir hier bei uns?«, fragte sie weiter.
»Ganz gut.«
»Nur ganz gut?«
»Hm«, sagte er, nickte und konzentrierte sich wieder auf die Kartoffel, die er mit dem Sparschäler immer kleiner schnitzte.
»Ich glaube, die ist fertig.« Rose nahm sie ihm aus der Hand und gab ihm eine neue.
»Und wie geht’s deiner Mum, was meinst du?«, fragte sie.
»Ihr geht’s ganz gut.«
»Ja?«
»Ja. Na ja … sie ist halt traurig. Wegen Papa.«
»Sicher.« Rose legte ihr Schälmesser weg und beugte sich zu ihm herunter, um seinen Blick einzufangen. »Das ist normal, weißt du? Dass man traurig ist, wenn jemand stirbt, den man liebhat.«
»Ich weiß«, sagte er, den Blick starr auf seine Arbeit gerichtet.
»Bist du auch traurig, Nico?«, fragte sie.
»Ich …« Er sah auf, über ihre Schulter hinweg, und etwas, das Rose nicht deuten konnte – war es Furcht? –, flackerte über seine Züge.
Sie drehte sich um und sah Polly, die schlotternd vor Kälte am geöffneten Küchenfenster stand und sie anstarrte. Die schwarzen Haare standen ihr nach allen Seiten ab, wodurch ihr Gesicht klein und formlos wirkte. Sie trug wieder das lange, halbtransparente weiße Nachthemd vom ersten Morgen. Im Sonnenlicht wirkte der Stoff zerschlissen, und es waren Flecken darauf, die aussahen wie getrocknetes Blut. Pollys Augen waren rot und geschwollen.
Ihre Stimme war ruhig, als sie sprach. »Natürlich ist er traurig – stimmt’s, Nico?«
Der Junge nickte stumm.
»Wir sind alle traurig, Rose. Falls du es vergessen haben solltest: Unsere Welt ist zusammengebrochen.« Dann, als würde irgendwo tief in ihrem Inneren explosionsartig Energie freigesetzt, schrie sie plötzlich: »Gott!«
Die Kinder sahen verdattert von ihrer Arbeit auf. Auf der anderen Seite der Küche löste sich ein Messer vom magnetischen Messerblock und fiel mit einem metallischen Klirren auf den Steinfußboden. Rose zuckte zusammen. Sie überlegte blitzschnell und klatschte in die Hände.
»So, Kinder, warum geht ihr jetzt nicht rüber und schaut euch Die Simpsons an? Nico und Anna, könnt ihr kurz auf Flossie aufpassen?« Sie scheuchte sie ins Wohnzimmer und drückte Yannis die Fernbedienung in die Hand. Er nahm sie entgegen, als wäre sie ein Schatz, den man ihm zur sicheren Verwahrung anvertraut hatte.
Rose eilte zur Tür hinaus ums Haus herum, wo Polly immer noch am Fenster stand. Sie sah zum Nebengebäude hoch, während ihr fleckiges Nachthemd in der Brise flatterte.
»Komm, Polly, lass uns zu dir gehen. Wir machen uns einen Tee und setzen uns hin.«
»Du glaubst immer, dass alles gut wird, wenn man sich nur den Magen füllt«, sagte Polly.
»Stimmt«, meinte Rose und hakte sich bei Polly unter. »Aber weißt du was? Ich könnte wirklich ein Tässchen vertragen. Los, komm schon.«
Rose lenkte Polly an ihrem sehnigen, mit weichem Haarflaum bewachsenen Arm die Stufen hinauf zum Nebengebäude. Pollys Haut fühlte sich rau an wie altes Papier. Sie folgte ohne nennenswerten Widerstand.
»Tut mir leid, dass ich heute so viel zu tun hatte«, sagte Rose. »Ich wollte ein bisschen Zeit mit dir verbringen, aber ich musste noch einkaufen. Ich habe eben nach dir gesehen, aber ich glaube, du hast geschlafen. Es muss lange her sein, dass du zum letzten Mal ein bisschen Zeit für dich hattest, ohne die Jungs.«
»Ja.« Polly entzog Rose ihren Arm und schlang ihn sich um den mageren Körper. Die Sonne verschwand langsam hinter dem Nebengebäude, und die Schatten wurden länger, wodurch der leichte Wind seine wahre Kälte offenbarte. Vor der hölzernen Treppe, die zum Wohn-Schlaf-Zimmer hochführte, blieben sie stehen.
»Komm noch nicht rein«, sagte Polly. »Warte noch eine Sekunde, ja?«
»Klar.« Rose stand da und wartete zehn Minuten. Sie hörte Polly oben im Zimmer herumlaufen, Sachen hin- und herschieben, scheuern und poltern. Eine Zeitlang lief der Wasserhahn, dann rauschte die Toilettenspülung. Schließlich tauchte Polly wieder an der Tür auf. Sie war
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