Angsthauch
außer Atem, aber durch die Arbeit schien sich ihre Laune verbessert zu haben.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Die Jungs stürzen alles ins Chaos.«
Sie waren doch den ganzen Tag in der Schule, dachte Rose bei sich. Als sie Polly die Treppe hinauf nach oben folgte, wehte ihr eine überwältigende Amberwolke entgegen. Offensichtlich hatte Polly ihr Parfüm im Raum versprüht. Aber wieso? Was versuchte sie zu überdecken?
»Ich setz Wasser auf«, sagte Polly und ging in die Küchenecke. Rose ließ sich am Tisch nieder.
Es war ihr ein Rätsel, was Polly aufgeräumt hatte. Im Zimmer herrschte heillose Unordnung, das Bett war ungemacht, die Laken waren zerknittert und ineinander verknäuelt. Überall lagen Kleider und Unterwäsche herum, als hätte sich der Koffer, der in der Mitte des Raumes aufgeklappt dalag, übergeben und seinen Inhalt quer durchs Zimmer gespien. Pollys Gitarre war ausgepackt, und der Tisch war übersät mit gelben Blättern, die allesamt mit winziger Handschrift bedeckt waren, mit Zeichnungen, durchgestrichenem Gekritzel und Symbolen. Rose wusste, was das bedeutete. Sie hatte es oft genug gesehen.
»Du schreibst.« Sie sah zu Polly auf.
»Was? Ach so, ja«, antwortete sie und sammelte hastig die Blätter ein, als wären sie ihr vorher gar nicht aufgefallen. Sie warf den ganzen Haufen aufs Bett und zog die Bettdecke darüber. »Du weißt ja, das ist eine meiner Methoden, mit gewissen Dingen klarzukommen.« Sie setzte sich aufs Bett, direkt auf die Papiere.
»Und die anderen?«, fragte Rose, während sie aufstand und den Tee machte, den Polly vergessen zu haben schien.
»Ach, Miss Rose, das wollen Sie gar nicht wissen.« Polly lachte, und Rose fiel mit ein. Polly allerdings lachte ein wenig länger, als nötig oder normal gewesen wäre, und am Ende war das Geräusch nur noch ein mechanisch klingendes Ticken in ihrer Kehle.
Rose goss ein wenig Milch in beide Tassen und trug eine zu Polly, der sie sie vorsichtig in die Hände gab.
»Polly, bist du sicher, dass es dir gutgeht?«
»Ganz ehrlich?«, sagte Polly, nippte an ihrem Tee und verzog das Gesicht. »Mir ging es schon mal besser. Gib mir einfach ein bisschen Zeit, okay?«
»Natürlich«, meinte Rose. »Du hast alle Zeit der Welt.«
»Das wird schon wieder«, sagte Polly und widmete sich dem Teetrinken, als wäre es eine schwere Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hatte. Als sie fertig war, stellte sie die Tasse auf den Boden und sah zu Rose auf, die wieder am Tisch Platz genommen hatte.
»Hör zu, Rose«, begann sie. »Ich bin dir wirklich sehr dankbar für alles, was du für mich tust. Ehrlich. Aber – bitte glaub nicht, dass alles durch Reden besser wird. Dadurch, dass du mit mir oder mit meinen Kindern ein paar nette Gespräche führst. So funktioniert das nicht. Was wir durchgemacht haben, das lässt sich nicht so einfach aus der Welt schaffen. Ich muss das auf meine Weise machen, und die ist nun mal anders als deine. Das war immer schon so. Also denk bitte nicht, dass du alles mit ein paar warmen Worten und einem guten Essen geradebiegen kannst, weil das nämlich ein Irrtum ist. Die Wahrheit ist, dass nichts Christos zurückbringen wird. Das ist es, womit wir – die Jungs und ich – klarkommen müssen. Wie könntest du jemals nachvollziehen, was das für uns bedeutet? Also bitte – du weißt schon: Halt dich ein bisschen zurück.«
Rose sah zu Boden und atmete langsam aus. »Okay«, sagte sie.
»Ich weiß, dass du immer alle bemuttern willst, Rose. Und wir beide wissen auch genau, warum.«
Rose schnappte nach Luft, entsetzt über das, was Polly da gerade gesagt hatte.
»Du musst dir deswegen keine Sorgen machen«, fuhr Polly fort. »Aber lass es nicht an meinen Kindern aus, klar?«
Rose stand auf, um zu gehen. Ihr fiel auf, dass ihre Knie zitterten. Oben an der Treppe drehte sie sich noch mal zu Polly um und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht.
»Kommst du zum Abendessen runter?«, fragte sie. »Die Kinder haben eine Pastete gemacht.«
»Wie schön für sie«, erwiderte Polly, schlang die Arme um sich und mied Roses Blick.
»Halb sieben. Bitte sei pünktlich. Die Pastete verdirbt sonst.«
»Okay. Bis dann«, sagte Polly und stand auf, um die Tür hinter Rose zu schließen.
Rose warf einen letzten Blick auf das verwüstete Zimmer, das sie vor Pollys Ankunft so sorgsam und liebevoll hergerichtet hatte. Erst jetzt sah sie, dass auf dem Tischchen neben dem Bett ein druckfrisches Hardcover-Exemplar von Simons
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