Angsthauch
Weinregal zu holen. »Ich habe das Gefühl, dass ich was Handfestes brauche. Etwas, das ich fühlen kann.«
»Das Gefühl kenne ich«, meinte Polly und lächelte.
»Vielleicht versuche ich, den Fluss bis zur Quelle zurückzuverfolgen. Seine Reise zu dokumentieren«, sagte er und schenkte erst ihr ein, dann sich selbst.
»Da würde ich gern mitkommen!«, rief Polly.
»Ich weiß nicht …«, begann Rose, aber Gareth fiel ihr ins Wort.
»Wenn ich das wirklich mache, dann auf jeden Fall allein. Das kann Tage dauern«, sagte er. »Ich nehme einen Schlafsack mit und verbringe die Nacht da, wo ich gerade bin.«
Wie wundervoll das sein muss, dachte Rose. Sich frei genug zu fühlen, so etwas zu tun. Aber genau das war einer der Gründe, weshalb sie Gareth liebte: die Art und Weise, wie er aus einer Idee eine Realität schuf. Wie er in ihr einen Anlass fand, Tage und Wochen und Monate mit einer einzigen Sache zu verbringen. Sogar Jahre, wenn man das Haus mitzählte. Beharrlichkeit war eine gute Eigenschaft für einen Ehemann, und wenn er sie für seine künstlerische Arbeit einsetzte, konnte er damit sogar seine Familie ernähren. Dass Rose ganz allein für ein paar Tage loszöge, um einen Traum zu verfolgen, war hingegen völlig undenkbar. Allein der Gedanke war so absurd, dass sie eine Sekunde lang das Gefühl hatte, weinen zu müssen. Und was wäre das überhaupt für ein Traum gewesen? Sie wusste nicht einmal, ob sie einen hatte. Doch andererseits lebte sie ja tagtäglich mittendrin. Sie hatte es gar nicht nötig, irgendwo anders danach zu suchen.
Der Nachtisch war beendet. Alle Teller bis auf Pollys waren blank geputzt. Rose teilte die Kinder zum Abwaschen ein.
»Polly hat wieder angefangen zu schreiben, Gareth«, sagte sie.
»Tatsächlich?« Gareth drehte sich zu Polly um.
»Ich hab nur an ein paar Sachen weitergearbeitet, die ich gemacht hab, seit Christos … na ja, ich hab ja immer geschrieben, wenn ich Probleme zu verarbeiten hatte, und im Moment sind die Bedingungen geradezu ideal. Es sprudelt nur so aus mir hervor.«
»Songs?«, wollte Gareth wissen.
»Mein Witwen-Zyklus «, antwortete Polly mit leiser Stimme. Dann verstummte sie, legte die Hände vor sich auf die Tischplatte und betrachtete ihre Nägel. Sie wirkte auf einmal sehr zerbrechlich.
Für eine unterernährte Frau Ende dreißig, die viele Drogen genommen und fünf Jahre lang unter der brennenden Sonne Griechenlands gelebt hatte, besaß Polly ein bemerkenswert faltenfreies Gesicht. Rose hatte die Theorie entwickelt, dass es ab einem gewissen Alter entweder den Hintern oder das Gesicht traf. So tröstete sie sich über die fünf zusätzlichen Kilo hinweg, die sie mit sich herumtrug. Aber auf Polly passte die Regel nicht, so wie die meisten Regeln, die für die Mehrheit der Menschen galten, auf sie nicht passten. Im Schein der Kerzen sah sie aus wie zwanzig.
»Ich bewundere euch beide so dafür, dass ihr euer Leben und eure Umwelt dazu nutzen könnt, was Kreatives zu schaffen«, erklärte Rose und setzte sich neben Gareth.
»Das machst du doch auch, Rose. Deine Kunst ist das Leben selbst«, sagte er und legte mit einem schmalzigen Grinsen den Arm um sie.
»Verschon mich«, stöhnte Rose. »Du klingst wie der Spruch auf einem Kühlschrankmagneten.«
»Ich weiß. Aber du hast all das hier zum Leben erweckt«, sagte er und deutete in den Raum hinein. »Ohne dich wäre das alles nichts. Ohne dich wäre ich nichts.«
Er übertrieb es ein wenig. Erst fingen die Kinder am Spülbecken an zu kichern, dann stimmten Rose und Gareth mit ein, und schließlich lachten alle fünf so laut, dass ihnen die Tränen übers Gesicht liefen. Polly lächelte von ihrem Platz auf der anderen Seite. Rose beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie hatte wieder diesen Ausdruck im Gesicht, als stelle sie im Kopf Berechnungen an.
»Ohne dich wäre ich nichts!« Nico war auf die Knie gesunken, hatte die Augen geschlossen und hielt Yannis’ Hand an sein Herz gepresst. Er hatte sich Gareths amerikanischen Akzent abgehört und ihn perfekt auf die Spitze getrieben. Yannis sah zur Decke empor und vollführte eine schwungvolle Geste mit dem Teller, den er gerade abtrocknete, um dem Moment noch mehr Dramatik zu verleihen. Leider rutschte ihm der Teller aus der Hand, flog quer durch den Raum und landete mit einem ohrenbetäubenden Krach auf dem Steinfußboden, so dass Manky jaulend die Flucht ergriff. Es folgte eine kurze verdatterte Stille, dann drehten sich alle zu Rose um.
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