Angsthauch
neuestem Roman lag.
Polly war ihrem Blick gefolgt. »Ach so. Simon hat es heute Mittag rübergebracht. Damit ich was zu lesen hab. Hört sich ganz interessant an«, meinte sie und drehte sich wieder zu Rose um.
»Ist es auch«, sagte Rose und sah ihr in die Augen. »Es wird dir gefallen.«
Dann wandte sie sich ab und ging zurück zum Haus, wobei sie sorgsam ihre Schritte zählte.
13
U nter Annas Federführung hatten die Kinder beschlossen, aus dem Abendessen ein großes Spektakel zu machen. Sie breiteten eine weiße Leinentischdecke auf dem Küchentisch aus und deckten ihn mit dem besten Geschirr. Sie pflückten Osterglocken unten im Garten und stellten sie in einer Vase in die Mitte. Abschließend zündeten sie mit Roses Hilfe noch zwei Kerzenleuchter an und platzierten sie an den Tischenden.
Gareth, der aus seinem Atelier kam, gerade als die Kerzen angezündet wurden, sah die festliche Tafel und verkündete, dies werde das außergewöhnlichste Abendessen des Jahres und verdiene daher eine Flasche Champagner aus der Kiste, die er von Andy zum vierzigsten Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
Er ließ den Korken quer durch die Küche fliegen, und die Kinder fingen den überquellenden Schaum in winzigen Gläsern auf, mit denen sie sich zuprosteten. Ihre Begeisterung war ansteckend. Sie taute den winzigen Teil von Roses Herzen auf, in dem nach ihrem Gespräch mit Polly immer noch Eiszeit herrschte, so dass sie ihrer Freundin, als diese schließlich kam – natürlich zu spät –, wieder in die Augen sehen konnte.
Und was für einen Anblick Polly bot. Sie trug ein langes schwarzes, schräggeschnittenes Kleid und hatte sich die Haare zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt. Roter Lippenstift ließ ihren etwas zu großen Mund erblühen wie eine Rose, und unglaublich lange, getuschte Wimpern warfen Schatten auf ihre blassen Wangen. Rose fand, dass sie atemberaubend schön aussah, wie eine Figur aus einem Roman. Die Kameliendame . Rose zog sich die abgetragene, von Knötchen übersäte Strickjacke enger um den Körper und fragte sich, wie ein einziger Koffer so viele verschiedene Sachen, so viele verschiedene Pollys enthalten konnte.
Im Gegensatz zu ihr schien Polly völlig vergessen zu haben, was kurz zuvor im Nebengebäude zwischen ihnen vorgefallen war. Sie trat ein, und als sie die Pracht der gedeckten Tafel sah, nahm sie Rose bei den Händen und küsste sie einmal auf jede Wange. Sie ging zu Gareth und wiederholte die Geste, dann schüttelte sie den Kindern der Reihe nach förmlich die Hand.
»Das sieht phantastisch aus«, sagte sie und setzte sich. Ihre Haut leuchtete im Kerzenschein. »Ihr habt euch alle so viel Mühe gegeben!«
Die Kinder strahlten und strafften stolz die Schultern. Rose und Anna trugen das Essen auf.
»Die Pastete ist köstlich«, sagte Polly, während sie in ihrer Portion herumstocherte.
Und das war sie wirklich. Obwohl die Kinder den Teig in ihrem Übereifer fast zu Tode geknetet hatten, war er locker und knusprig, und die Füllung aus Lammfleisch und Gemüse zerging auf der Zunge.
Rose sah Polly an. Der Ausbruch vorhin musste ihr gutgetan haben, denn sie war in Hochform. Von mir aus, dachte Rose. Wenn es ihr hilft.
Polly erkundigte sich bei ihren Söhnen, wie es in der Schule gewesen sei. Sie legte sogar den Arm um Yannis, während sie darauf warteten, dass Rose, Anna und Nico den Nachtisch aus mit Datteln gefüllten Bratäpfeln auftrugen. An die Brust seiner Mutter gelehnt, hatte Yannis dieselbe Erleichterung im Gesicht wie ein Überlebender, den man von einem sinkenden Schiff gerettet hat. Und Polly sah mit ihrem Sohn ihm Arm beinahe glückselig aus, fand Rose, während sie Sauce in einen Krug füllte.
»Wie läuft die Arbeit, Gareth?«, erkundigte sich Polly und richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihn.
»Es wird langsam«, meinte er. »Ich habe jetzt meine Perspektive geändert – von den Feldern hin zum Fluss. Ich könnte mir handgemachte Drucke vorstellen. Vielleicht ein Buch.«
»Über unseren Fluss?«, fragte Rose. Diese Entwicklung war ihr neu, aber sie freute sich. Gareth sprach so gut wie nie über seine Arbeit, solange er sich noch in der Ideenfindungsphase befand. »Drucke? Klingt interessant«, fügte sie hinzu und reichte ihm die Äpfel. Gareths letzte Arbeiten waren größtenteils digital gewesen, mit wenigen Akzenten in Öl, der alten Zeiten wegen.
»Tja, das Handwerk hat es mir wohl angetan«, sagte er und stand auf, um eine Flasche Rotwein aus dem
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