Angsthauch
und sage den Kindern gute Nacht. Falls ich noch die Treppe hochkomme. Polly, willst du mitkommen und den Jungs gute Nacht sagen?«
»Ich glaub, heute verzichte ich lieber«, erwiderte sie und zog ein letztes Mal am Joint, bevor sie ihn an Gareth weiterreichte. »Nico riecht sonst bloß meinen Atem und schimpft mit mir. Er hasst es, wenn ich rauche. Er hat Angst, dass er mich auch noch verliert. Gib ihnen einen Kuss von mir, ja?«
Als Erstes schlich Rose zu Anna, die, unter einem Berg von Teddys vergraben und in ihre Bettdecke eingehüllt wie in einen Kokon, bereits eingeschlafen war. Dann ging sie zu den Jungs ins Gästezimmer. Nico las einen Comic, Yannis hatte sich ganz klein zusammengerollt.
»Ich hab ihm versprochen, dass ich wach bleibe, bis er eingeschlafen ist«, sagte Nico.
»Gut, dass er einen Bruder wie dich hat«, sag Rose, beugte sich vor und gab ihm einen Kuss aufs Haar. Dann ging sie zu Yannis, der sie fest an sich zog.
»Ich wollte, du wärst meine Mama«, wisperte er ihr ins Ohr.
»Schhh. So was darfst du nicht sagen«, murmelte sie und legte einen Finger auf seine Lippen. »Und jetzt schlaf schön.« Als sie ihn auf die Wange küsste, machte er lächelnd die Augen zu.
Sie trat in den Flur hinaus und schaltete das Nachtlicht ein. Anna fürchtete sich im Dunkeln. Sie selbst auch, wenn sie ehrlich war.
Auf dem Weg zurück nach unten wurde ihr klar, dass Polly in ihrer Erzählung von Christos’ Tod nicht ein einziges Mal die Jungs erwähnt hatte. Es war ausschließlich um Polly selbst gegangen, sie hatte die Geschichte vollkommen vereinnahmt. Aber es war eine Sache, am Ufer zu stehen und sich zu fragen, warum um alles in der Welt Polly nicht um ihr Leben schwamm. Selbst im Wasser zu sein und gegen die Strömung ankämpfen zu müssen, die einen hinabzog, war eine ganz andere.
Rose blieb auf dem unteren Treppenabsatz stehen und sah Polly und Gareth am Tisch sitzen. Sie waren ganz ins Gespräch vertieft und ließen einen neuen Joint zwischen sich hin- und hergehen. Das war gut.
Als sie die Küche betrat, streckte Gareth ihr die Hand entgegen, damit sie zu ihm kam und sich neben ihn setzte.
»Wir haben gerade Erinnerungen an Christos ausgetauscht«, sagte er. »Er war ein außergewöhnlicher Mensch.«
»Das war er«, stimmte Rose ihm zu.
Polly, die zu zittern begonnen hatte, holte ein paar Tabletten aus den Fläschchen in ihrem Beutel und spülte sie mit dem letzten Schluck aus ihrem Weinglas hinunter.
»Ich muss jetzt wirklich«, erklärte sie mit einem Blick zur Uhr.
»Aber es ist doch erst zehn.«
»Ich muss mich an den Einnahmeplan halten.« Sie stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster über der Spüle, von dem aus man das Nebengebäude sehen konnte. Irgendetwas dort oben schien ihre Aufmerksamkeit erregt zu haben.
»Na gut«, meinte Rose und erhob sich ebenfalls. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Wenn du willst, begleite ich dich.«
»Nein, mir geht’s prima«, antwortete Polly. »Ich bin bloß müde. Danke für heute Abend. Das Reden hat gutgetan. Wir sehen uns morgen.«
»Steh nicht zu früh auf«, sagte Rose.
»Was denkst du von mir?« Polly verschwand eilig, die Decke noch um die Schultern.
»Das war aber ein schneller Abgang«, meinte Rose verwirrt. Dann fiel ihr auf, dass Polly ihren Beutel auf dem Tisch vergessen hatte. »Den bringe ich ihr besser. Da sind ihre Pillen drin.«
»Heute wird sie die nicht mehr brauchen«, sagte Gareth. Er war aufgestanden und sah aus dem Fenster. »Komm und schau dir das an.«
Er nahm Rose beim Arm, blies die Kerzen aus und zeigte durch die Scheibe zum Nebengebäude. Dort stand jemand im Schatten verborgen und wartete auf Polly. Eine große männliche Gestalt, die unzweifelhaft Simon war. Er und Polly wechselten ein paar Worte im Türeingang. Sie schien nicht gerade begeistert zu sein, ihn zu sehen, aber nach einer Weile ging sie hinein, und er folgte ihr. Kurz darauf gingen im Nebengebäude die Lichter aus.
»Verdammt«, meinte Gareth. »Ich hatte ganz vergessen, dass unsere Polly von der schnellen Truppe ist.«
14
D er Rest der Woche verging nach einem stets wiederkehrenden Muster. Die Jungs schliefen im großen Haus, und Polly kam allabendlich zum Essen herunter. Soweit Rose wusste, hatte Simon Polly nach jener Nacht kein zweites Mal besucht. Zum morgendlichen Kaffeeklatsch war er auch nicht vorbeigekommen. Ein Abgabetermin, behauptete er Rose gegenüber und hetzte jeden Morgen von der Schule nach Hause. Sie vermisste
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