Angsthauch
Yannis lief laut kreischend um sie herum, und alle drei Kinder kicherten und japsten wie kleine Hunde.
»Das überrascht mich«, sagte Rose.
»So war das mit Christos. Immer anders als erwartet.« Polly streckte sich lang aus und nahm Flossie hoch, damit die auf ihrem Bauch liegen konnte.
Sobald Rose alles in den Picknickkörben verstaut hatte, legte sie sich neben Polly auf die Decke und sah in den klaren Himmel hinauf. Sie und Gareth hatten festgestellt, dass er hier auf dem Land viel blauer war als in der Stadt. Gareth hatte sich vorgenommen, irgendwann einmal einen Farbtest zu machen. Er würde an verschiedenen Orten der Welt den blauen Himmel auf Leinwand malen – nur das Blau – und die Bilder dann nebeneinander in der Galerie aufhängen, um sie zu vergleichen. Rose hatte eingewandt, dass das keine besonders wissenschaftliche Methode sei, weil das Blau jeden Tag anders aussehe und er ja nicht an einem einzigen Tag überall auf der Welt sein könne. Er hatte gelacht, aber ihr war es ernst gewesen.
Polly streichelte Flossies Ärmchen und massierte sanft das weiche Fleisch. »Nachdem Christos gestorben war«, sagte sie, »wollte ich nichts so sehr wie jemanden berühren. Der Verlust seines Körpers hat mich am stärksten erwischt. Mit ihm reden konnte ich ja noch in gewisser Weise, oder seine Anwesenheit spüren, aber das Physische war auf einmal nicht mehr da.«
»Man wünscht sich immer gerade das am meisten, was man nicht haben kann.«
»Das weißt du sicher besser als jeder andere.« Polly warf Rose einen Blick zu.
Rose erstarrte kurz, dann sah sie auf ihre Hände und pulte Schmutz unter ihren Fingernägeln hervor. Einen Augenblick lang wusste sie gar nicht mehr, wo sie war. Nicht einmal das Gelächter von Gareth und den Kindern drang noch an ihr Ohr.
»Tut mir leid«, sagte Polly.
»Wir reden nicht darüber, Polly, hast du das vergessen? Niemals. Bei unserem Leben.« Rose hielt den vernarbten Zeigefinger in die Höhe, als wäre er ein Zauberstab.
»Schon gut. Tut mir leid.« Polly wandte den Blick ab.
Rose zwang sich, wieder ins Hier und Jetzt zurückzukehren, und lächelte ein bisschen zu fröhlich. Ihre Augen waren ganz geblendet vom Himmel.
»Weißt du was, Polly? Mir fällt absolut nichts ein, was ich will und nicht schon habe!«
Kaum war es heraus, hätte sie es am liebsten zurückgenommen. Wie widerlich selbstgerecht sie geklungen haben musste. Rose wollte sich bei Polly entschuldigen und ihr erklären, dass sie das nur gesagt habe, um sich selbst davon zu überzeugen. Dass sie auf keinen Fall beabsichtigt habe, vor ihrer trauernden Freundin mit ihrem eigenen Glück zu prahlen. Aber wenn sie das täte, würde sie damit nur ihre eigene Verwundbarkeit offenbaren, und das wollte sie auf keinen Fall.
»Das ist großartig. Ich freue mich wirklich für dich.« Polly zog die Brauen zusammen und schloss die Arme fester um Flossie. Unwillkürlich durchzuckte Rose der Gedanke, dass es für ihr Baby auf diesem Knochengerüst wohl kaum besonders gemütlich sein konnte.
»Auf der Beerdigung«, begann Polly nach einem kurzen Schweigen zu erzählen, »hätte ich am liebsten den Sargdeckel aufgerissen, wäre in den Sarg gesprungen und hätte ihn gevögelt, vor allen Leuten. Ich wollte ihn verbrennen lassen. Ich wollte, dass von seinem Körper nichts mehr übrig ist. Ich hab gedacht, dann hört das Gefühl auf. Die Vorstellung, dass sein Körper noch irgendwie da ist und unter der Erde verfault, das ist einfach grauenhaft.«
»Warum hast du ihn dann nicht verbrennen lassen?«, fragte Rose und erschauerte bei dem Gedanken.
»Seine Mutter. Sie hat gesagt, das wäre illegal in Griechenland. Ich hab’s nicht besser gewusst und hab ihr geglaubt. Natürlich war das eine Lüge. Der Staat erlaubt es sehr wohl, bloß die orthodoxe Kirche nicht. Aber Christos war nicht gläubig, trotz des Namens, den die alte Yaya Maria ihm aufgebürdet hat.«
»Ja, er war alles andere als orthodox«, meinte Rose.
»Ich hätte einfach das machen sollen, was er gewollt hätte. Aber da hat man’s eben. Ich war zu feige.«
»Sei nicht so hart zu dir. Seine Mutter hört sich an wie eine Naturgewalt.«
»Wem sagst du das. Na ja, wie auch immer, jedenfalls hab ich uns alle enttäuscht. In den Tagen direkt nach der Beerdigung bin ich zum Friedhof gegangen, hab die frische Erde angefasst, in der er lag, und hab mein Gesicht darin vergraben. Und die ganze Zeit über war ich geil wie ein brünstiges Tier. Ich hab mich selbst
Weitere Kostenlose Bücher