Angsthauch
müssen.
»Dann was?« Sie hatte Schwierigkeiten, sich vorzustellen, was er meinte. So war es immer, wenn er über seine Arbeit sprach. Er brauchte lange, um sich ein konkretes Ziel zu setzen, aber wenn er es ihr dann erklärte, erschien es ihr meistens vollkommen offensichtlich und simpel, so dass sie sich fragte, ob dieses Ziel die ganze Arbeit, die er auf dem Weg dorthin investierte, überhaupt wert war.
»Dann füge ich die menschliche Form in die Arbeiten ein. Wie, das weiß ich noch nicht genau, aber die Grundthemen sind Schönheit und Zerstörung. Wie wir uns in die Welt setzen und sie in diesem Akt besudeln, sie quasi zermalmen.«
»Ich würde zu gern sehen, was du meinst.«
»Es gibt noch nichts zu sehen, aber sobald ich was habe, bist du die Erste, versprochen.« Er beugte sich zu ihr, während sie die Spaghetti abgoss, und küsste sie aufs Haar.
Rose rückte von ihm ab und läutete die Glocke. »Abendessen!«, rief sie.
»Ja, ein produktiver Tag.« Gareth rieb sich die Hände und ließ sich am Tisch nieder.
Rose wusste nicht, weshalb, aber sie hatte das Gefühl, als säße ihr das Herz hinter dem Bauchnabel. Vielleicht würde der Wein helfen, es wieder nach oben zu befördern. Also entkorkte sie eine Flasche aus dem unteren Fach des Weinregals – das mit den besseren Jahrgängen – und schenkte sich ein großes Glas blutroten Bardolino ein. Sie wollte sich gerade damit zum Tisch umdrehen, als ihr klarwurde, dass sie vergessen hatte, Gareth ebenfalls etwas einzugießen. Sie schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, holte ein zweites Glas aus dem Schrank und polierte es sorgfältig an ihrem T-Shirt, bevor sie es füllte.
*
Nach dem Abendessen teilte Rose die Kinder zum Tischabräumen ein, während sie Flossie badete und stillte, um sie danach schlafen zu legen. Flossie strampelte in der Wanne und wirbelte dabei einige Seifenblasen auf. So aktiv hatte Rose sie seit dem Krankenhausaufenthalt noch nicht erlebt. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass ihre Tochter vielleicht doch keine bleibenden Schäden davongetragen hatte. Sie nahm ein Fünkchen der Hoffnung in sich wahr, aber vielleicht lag das auch am Wein.
Sie wollte Flossie gerade hinlegen, als es an der Tür klingelte. Das musste Janka sein, Simons Au-pair-Mädchen, das auf die Kinder aufpassen sollte. Simon hatte beschlossen, nicht zu Pollys Konzert zu gehen, also schien Janka die perfekte Lösung für das Problem, dass Rose und Gareth einmal gemeinsam ausgehen wollten.
»Kannst du aufmachen, Gareth? Ich muss mich noch umziehen. Mach ihr eine Tasse Tee, ich komme gleich runter.«
Rose spürte ein flaues Gefühl im Magen, als sie Flossie in ihr Bettchen legte, das jetzt wieder im Kinderzimmer stand. Der Plan war, sie zunächst in ihrem eigenen Bett schlafen zu legen, bis sie zurückkamen und Rose sie mit ins Elternbett nehmen konnte. Nur dort fühlte sie sich wirklich sicher mit der Kleinen. Sie überhaupt in ihr eigenes Bettchen zu legen fiel ihr schon schwer genug. Der ganze Abend war eine Zerreißprobe für ihre Nerven. Es war das allererste Mal, dass sie ihre Kinder abends allein ließ – bis auf das berüchtigte Richtfest, als Anna bei Bekannten geschlafen hatte. Außerdem war Flossie noch nicht lange wieder zu Hause, und wenn Rose ehrlich war, wusste sie gar nicht, wie sie es übers Herz bringen sollte, sie zu verlassen. Die ganzen letzten Tage über hatte sie deswegen Magenschmerzen gehabt. Immer wieder hatte sie Hals über Kopf zur Toilette rennen müssen. Aber ihr blieb keine Wahl. Als sie Gareth von ihren Ängsten erzählt hatte, hatte der sie lediglich geduldig darauf hingewiesen, dass das Pub nur ein paar hundert Meter weit weg sei, dass Janka die Kinder kenne, dass sie die Telefonnummer des Pubs habe und dass er Charlie, dem Besitzer, sagen werde, er solle Rose umgehend Bescheid geben, falls Janka anrief.
Er verstand einfach nicht.
Rose ging ins Ankleidezimmer und lehnte sich mit der Stirn gegen den mannshohen Spiegel, Auge in Auge mit ihrem Spiegelbild. Vielleicht sollte sie einfach sagen, sie fühle sich krank? Wenn sie Kopfschmerzen bekäme oder sich übergeben müsste – Letzteres dürfte kein Problem sein –, dann würde sie nicht mitkommen müssen. Doch als sie zu Christos’ Gemälde von Polly hinübersah, dachte sie an alles, was einmal gewesen war. Sie war Polly gegenüber zu Loyalität verpflichtet, stand sogar in ihrer Schuld. Es war völlig ausgeschlossen, dass sie sich nicht am Riemen riss und ins
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