Angsthauch
Kopf und sah, wie Polly auf die winzige erhöhte Fläche gehuscht kam, die als Bühne diente. Vor dem Mikrofon blieb sie stehen und stellte es auf ihre Höhe ein. Ihre Lippen waren blutrot geschminkt, und sie trug ein langes schwarzes Kleid mit einem Muster wie ein Spinnennetz. Sie wirkte ein wenig nervös.
»Hallo.« Ohne ein Lächeln blickte sie ins Publikum. »Es ist schön, wieder da zu sein.«
Die Menge brach in laute Jubelrufe aus, woraufhin ganz kurz Freude in Pollys Zügen aufflackerte. Rose schaltete die Kamera ein. Polly sah auf ihre Gitarre herab und schlug ein paar Mollakkorde an.
»Ich bin Witwe, und das hier ist meine Geschichte«, sagte sie mit halbgeschlossenen Augen. Dann stimmte sie ihr erstes Lied an.
*
Polly war umwerfend. Innerhalb eines Wimpernschlags schwang sich ihre Stimme von einem tiefen Bassraunen bis zu einem hohen, durchdringenden Klageton empor. Ihre neuen Songs handelten von Schmerz, Liebe, Blut und Tod, und sie entfesselte ihre ganze Wut und Enttäuschung in dem winzigen Raum. So gebannt, wie das Publikum ihr lausch te, bestand kein Zweifel daran, dass der Abend für viele eine lebensverändernde, ja transzendente Erfahrung war.
Einmal sah Rose zu Gareth hinüber, der beim ersten Klang von Pollys Stimme hereingekommen war. Die Leute standen so dicht gedrängt, dass er sich nicht zu ihr hatte durchschieben können, also war er auf der anderen Seite des Pubs stehen geblieben, wo er nun auf leicht besitzergreifende Art am Tresen lehnte. Als sie ihn dabei beobachtete, wie er Polly ansah, wurde ihr ganz unbehaglich zumute. Da war etwas in seiner Miene, das sie nicht sehen wollte; etwas, durch das sie selbst sich zutiefst gewöhnlich vorkam, so als wäre sie gar nicht würdig, hier zu sein und Musik wie dieser zu lauschen. Mit einem Mal verspürte sie eine tiefe Enttäuschung, und sie schämte sich, dass es ihr nicht gelungen war, ebenso großartig zu werden wie ihre Freundin dort oben auf der Bühne. Die Vorteile, von denen sie geglaubt hatte, sie sich über die letzten zehn Jahre hinweg erarbeitet zu haben, waren ganz eindeutig nichts als Illusion; sie war wieder da, wo sie hingehörte: an der Triangel in Pollys Orchester.
Polly ging in die Knie und schwang ihre Gitarre herum, als wäre sie ihr Sklave, der an der Hüfte mit ihr verwachsen war. Ihr Höschen wurde sichtbar, aber auf eine derb erotische Art und Weise, die nichts Anrüchiges hatte. Einen Augenblick lang war Rose voller Ehrfurcht.
Sie erinnerte sich noch an einen heißen Sommertag, als sie, Polly und ein paar Mitschülerinnen eigentlich Kugelstoßen hätten üben sollen, aber stattdessen am Rand des Sportplatzes in der Sonne gefaulenzt hatten. Rose und die anderen Mädchen hatten mit untergeschlagenen Beinen gesessen und sich die kurzen Sportröckchen sorgfältig über die Schenkel gebreitet. Polly hingegen hatte die Beine weit gespreizt, der Rock war ihr hochgerutscht, und man hatte alles sehen können. Aber da war kein einziges Schamhaar gewesen, das irgendwo hervorblitzte, kein feuchter Fleck im Schritt ihres blütenweißen Schlüpfers. Wie es wohl wäre, in Bezug auf den intimsten, unberechenbarsten Körperteil ein solches Selbstbewusstsein zu besitzen, hatte Rose sich damals gefragt. Und hier war sie nun wieder: Polly – genauso ungezügelt, genauso freizügig wie ihr dreizehnjähriges Gegenstück.
Rose mit ihrer Videokamera fühlte sich wie ein großer, fetter Kloß.
Ein Vernunftbolzen. Das war es, wozu sie geworden war. Sie war diejenige, die den sicheren Weg eingeschlagen hatte. Das Gewagteste, was sie in der letzten Zeit getan hatte, war, ein altes Haus zu kaufen und zwei Jahre lang daran herumzurenovieren. Nicht besonders spektakulär. Angesichts der Spannung auf der Bühne und der Leichtigkeit, mit der Polly das coole, abgehobene Publikum in ihren Bann schlug, kam sie sich wie eine spießige Hausfrau vor. Und das war sie zweifellos auch: das mit weitem Abstand am wenigsten begehrenswerte Wesen im ganzen Raum.
Mit zwölf neuen Songs, dem berühmten Titelsong von Running Scared , ihrem 1992 er-Album und einigen weiteren alten Hits wickelte Polly ihre Zuhörer um den kleinen Finger. Obwohl nur von der Gitarre begleitet, füllten die Lieder den Raum auf eine Art und Weise aus, die selbst seinen Geruch zu verändern schien.
Am Ende explodierte das Publikum. Die Leute trampelten, pfiffen und verlangten laut schreiend nach Zugaben. Diejenigen, die Gläser in der Hand hatten, schlugen mit ihren klobigen
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