Angstschrei: Thriller
durchbrach sie mit dem Fuß die gefrorene Oberfläche und sank in den darunterliegenden, verkrusteten Schnee, wodurch sie noch langsamer wurde. Wie lange noch, bevor er sie eingeholt hatte? Egal, wie schnell sie auch lief, ihr war klar, dass sie nicht schnell genug war. Aber wenn sie ihm schon nicht davonlaufen konnte, vielleicht konnte sie ihn ja abhängen? Sie hatte ihr ganzes Leben lang in diesem Labyrinth aus Pfaden gespielt. Sie wusste genau, wie sie sich durch dichte Tannenwälder schlängelten und immer wieder im Bogen zurückführten, einander kreuzten. Hier konnte man sich leicht verlaufen. Und es war alles andere als einfach, jemanden zu verfolgen, vor allem bei Nacht. Auch in einer mondhellen Nacht. Das hoffte sie jedenfalls. Es war der einzige Vorteil, den sie hatte. Sie kam an eine Weggabelung. Der breitere Weg, der nach links abzweigte, führte bis an die hintere Grenze der Müllkippe und von dort auf eine asphaltierte Straße, die zum Hafen führte. Der andere Weg war schmaler und schwieriger. Er führte über verschiedene kleine Pfade und Eisplatten, wo ihre Spikes und ihre genaue Ortskenntnis ihr einen größeren Vorteil verschafften. Sie schwenkte nach rechts.
Es war fast ein Uhr nachts, als Abby sich wieder aus dem Wald wagte. Sie arbeitete sich durch die dunklen Straßen rund um den Hafen bis zu der kleinen Polizeiwache vor, wo die beiden Beamten des Portland Police Department ohne Zweifel ein Schläfchen hielten. Sie versuchte, die Tür zu öffnen. Abgeschlossen. Natürlich. Sie klingelte. Niemand kam. Sie blickte sich um. Die Island Avenue lag in beide Richtungen dunkel und verlassen da. Endlich machte sich die Erschöpfung bemerkbar, und Abby lehnte sich gegen die Klingel. Sie würde jetzt so lange hierbleiben, bis einer der beiden sie hereinließ oder bis der TOD ihr seine schmale Klinge in den Nacken stieß. Was immer als Erstes passierte. Sie versuchte, Ordnung in die fiebrigen Bilder zu bringen, die ihr durch den Kopf jagten. Sie musste vernünftig klingen, sonst würden die Polizisten ihr niemals glauben. Immer noch rührte sich nichts. Sie senkte den Kopf. Ein leises, klagendes Wimmern drang aus ihrem Mund. Fast wie das Weinen der Frau auf dem Bett. Die Stimmen verhöhnten sie. Sie tat so, als hörte sie sie nicht. Düstere Visionen kreisten sie von allen Seiten ein. Schließlich tauchte der große Polizist mit dem schwarzen Schnurrbart hinter dem zugezogenen Vorhang auf. Er sah wütend aus, weil sie ihn aufgeweckt hatte. Er öffnete die Tür und ließ sie hinein.
Das war am Dienstag gewesen. Jetzt war Freitag. 23.52 Uhr. Zeit, zur Fähre zu laufen.
9
Portland, Maine
23.20 Uhr
Als McCabe sich bei Randall Jackson am Sicherheitstresen austrug, war er vollkommen erledigt. Er wollte nur noch nach Hause, sich unter die heiße Dusche stellen und ins Bett fallen lassen. Wenn möglich mit Kyra, aber wenn es sein musste auch allein. Nur leider war im Augenblick weder das eine noch das andere möglich. Stattdessen stellte er sich in eine Ecke des Foyers und wählte Janie Archers Telefonnummer in New York. Er brauchte Gewissheit, ob Lainie Goff Angehörige besaß oder nicht. Wenn ja, dann musste er einen Polizeibeamten zu ihnen schicken, der ihnen die Nachricht von Lainies Tod überbrachte– falls sie nicht schon längst davon gehört hatten. Außerdem wollte er Ms. Archer auch noch ein paar andere Fragen stellen. Nach Goffs Verhältnis zu Henry Ogden zum Beispiel. Vielleicht wusste sie ja, ob es die Grenzen des rein Beruflichen überschritten hatte. Jackson hatte erzählt, dass Lainie beim Verlassen des Hauses wütend gewirkt hatte. Ogden war zehn Minuten später gegangen. Waren er und Lainie zusammen gewesen? Und wenn ja, warum? Warum hatte eine ehrgeizige junge Frau wie Lainie Goff einer winzigen, so gut wie unbekannten Fürsorgeeinrichtung für Ausreißerkinder beinahe zweihunderttausend Dollar hinterlassen? Das schien überhaupt nicht zu dem Bild zu passen, das er sich bisher von ihr gemacht hatte, und er mochte es gar nicht, wenn etwas nicht zusammenpasste.
Nach dem vierten Klingeln meldete sich die fröhliche Stimme einer jungen Frau. » Hallo, hier ist Janie. Hinterlasst mir eine Nachricht, und ich rufe zurück.«
Zumindest lebte sie noch in New York und hatte ihre Telefonnummer nicht geändert. » Ms. Archer, hier spricht Detective Sergeant Michael McCabe vom Portland Police Department in Maine. Bitte rufen Sie mich so schnell wie möglich zurück. Es ist wichtig. Es geht um Ihre
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