Angstschrei: Thriller
hatte. Dann, gerade als sie das Gesehene als Produkt ihrer Fantasie abtun wollte, flammte ein zweites Streichholz auf. Wer immer es war, musste damit eine Kerze oder eine Laterne angezündet haben, denn dieses Mal blieb das Licht an und flackerte schwach.
Abby fragte sich, ob die Markhams wohl auf der Insel waren. Sie lebten in Boston und kamen manchmal auch im Winter hierher, aber Isabella rief eigentlich immer ein, zwei Tage vorher an und bat Abby, das Haus aufzuschließen, die Heizung einzuschalten und ein paar Lichter brennen zu lassen, damit es bei ihrer Ankunft warm und gemütlich war. Und außerdem, wenn es wirklich die Markhams waren, warum schalteten sie nicht einfach das elektrische Licht ein? Warum mühten sie sich mit Kerzen ab?
Das mit den Kerzen deutete auf irgendetwas Romantisches hin. Ob Marie und Annie wieder einmal Ehepaar spielten? Oder ein anderes Teenagerpärchen von der Insel? Abby versuchte sich zu erinnern, ob sie im Spirituosenschrank der Markhams jemals eine Flasche Kahlúa gesehen hatte. Hoffentlich würde sie nicht wieder irgendwelche verdorbenen Wandbilder vorfinden. Aber ganz egal, was da los war, die Markhams bezahlten sie fürs Aufpassen, also musste sie auch nachsehen. Es war zwar nicht viel Geld, aber sie hatte sich darauf eingelassen, und die Markhams vertrauten ihr.
Wenn sie ihr Handy dabeigehabt hätte, dann hätte sie jetzt die Polizei anrufen können. Oder Travis. Aber das Handynetz hier draußen am Seal Point war extrem unzuverlässig und die Polizei hätte sie sowieso bloß schikaniert. Und Travis? Wenn er nicht zu Hause im Bett lag und schlief, dann war er wahrscheinlich gerade damit beschäftigt, irgendeinem Mädchen an die Wäsche zu gehen. Er würde Abbys Nummer auf dem Display erkennen und gar nicht erst rangehen.
Sie versuchte sich an den Grundriss des Hauses zu erinnern. Bislang war sie nur ein einziges Mal im ersten Stock gewesen, als Isabella ihr alles gezeigt und ihr die Schlüssel gegeben hatte. Sie war sich ziemlich sicher, dass das Kerzenlicht aus dem Schlafzimmer kam. Das war ein großes Zimmer auf dieser Seite des Hauses mit einer riesigen Fensterwand, die einen freien Blick hinaus auf das offene Meer ermöglichte. Sie wusste noch, dass sie gedacht hatte, wie wundervoll es sein musste, warm und kuschelig im übergroßen Bett der Markhams aufzuwachen, während die Sonne langsam über den Horizont kletterte. Wie wundervoll es sein musste, sich in solch einem Ambiente zu lieben.
Abby schlich auf das Haus zu und versuchte sich dabei im Schatten zu halten wie die Kommissare im Fernsehen. Wer oder was auch immer sich da im Haus aufhielt, ihr Gefühl sagte ihr, dass es weder Annie noch Marie noch irgendwelche anderen Inselteenager waren. Aber wer dann? Ihre Nervosität wuchs. Sie kam zum Haus und stieg die zwölf Stufen bis zur Veranda hinauf. Dann drückte sie sich flach an die Hauswand und schob sich seitwärts bis zur Haustür. Sie legte das Ohr an die Tür. Im selben Augenblick wurde ihr klar, wie idiotisch das war. So wie der Wind heulte und die Brecher gegen die Felsen krachten, konnte gar kein Geräusch von drinnen an ihr Ohr dringen, selbst, wenn da jemand aus voller Kehle gebrüllt hätte.
Aber dann hörte sie doch etwas. Jemand sagte ein paar leise Worte. Und dann noch jemand. Dann fing ein ganzer Chor an zu flüstern. Die Stimmen erwachten aus ihrem Schlaf. Mach schon, du blöde Ziege, geh rein. Los jetzt, du fette Kuh. Geh da rein und lass dich umbringen. Das willst du doch, wenn du ehrlich bist, oder etwa nicht? Einfach ignorieren, sagte sie sich. Nicht reagieren. Wenn man ihnen eine Antwort gab, dann fühlten sie sich bloß ermutigt. Sie gab sich einen Ruck. Sie musste das tun. Wenn sie es nicht schaffte, die Stimmen zu ignorieren und ihre Aufgabe zu erledigen, dann konnte sie auch gleich von der Klippe springen. Genau das wollten die Stimmen erreichen. Und dieses Mal würden sie dafür sorgen, dass keine Hummerfischer in der Gegend waren und sie aus dem Wasser ziehen konnten.
Abby spürte die Nässe unter der Maske und merkte erst jetzt, dass sie weinte. Die Stimmen wurden immer lauter. Sie musste sie zum Schweigen bringen. Sie zog die Handschuhe aus, griff in ihre Gürteltasche und suchte nach der Flasche mit dem Zyprexa. Sie zog die Maske ab und schluckte eine Zwanzig-Milligramm-Tablette hinunter, trocken. Schon die zweite heute. Das Doppelte der vorgeschriebenen Dosis. Sie wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis die Wirkung einsetzte, ja
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